Rezension über:

Reinhard Härtel (Hg.): Akkulturation im Mittelalter (= Vorträge und Forschungen; Bd. LXXVIII), Ostfildern: Thorbecke 2014, 566 S., ISBN 978-3-7995-6878-4, EUR 56,00
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Rezension von:
Pavlína Rychterová
Österreichische Akademie der Wissenschaften, Wien
Redaktionelle Betreuung:
Ralf Lützelschwab
Empfohlene Zitierweise:
Pavlína Rychterová: Rezension von: Reinhard Härtel (Hg.): Akkulturation im Mittelalter, Ostfildern: Thorbecke 2014, in: sehepunkte 15 (2015), Nr. 5 [15.05.2015], URL: https://www.sehepunkte.de
/2015/05/26018.html


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Reinhard Härtel (Hg.): Akkulturation im Mittelalter

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Der neueste Beitrag aus dem Konstanzer Arbeitskreis für mittelalterliche Geschichte widmet sich einem Thema, das auf den ersten Blick wenig kontrovers erscheinen mag. Akkulturation im Mittelalter stellt im Grunde kein Thema, sondern viel eher ein eigenes, sehr breites Forschungsgebiet dar, das sich auch stets in der Folge lebhafter Debatten innerhalb der euroamerikanischen Geistes- und Sozialwissenschaften wandelt. Der Konstanzer Arbeitskreis selbst bewegt sich seit Jahrzehnten selbstbewusst auf diesem Gebiet, auch wenn das Stichwort "Akkulturation" nicht in allen Titeln der einschlägigen Bände der Reihe "Vorträge und Forschungen" erscheint. Diese älteren Sammelwerke sind es auch, die den Fokus des vorliegenden Werkes mitbestimmt haben - so sehr, dass es als eine Art "Ergänzungsband" zu den Vorgängern betrachtet werden kann und entsprechend der ausdrücklichen Aufforderung des Herausgebers auch soll (12).

Es verwundert daher ein wenig, wie viel Unsicherheit sich hinsichtlich des titelgebenden Begriffs des Sammelbandes offenbart. Immer wieder distanzieren sich die Autoren davon mit Stichworten wie "Mode" oder klagen über seine Entleerung und über die allerdings nie näher definierte politische Korrektheit, die er impliziert. Das bildete wohl auch das Hauptthema der Debatte während der Tagung, was sich an dem zusammenfassenden Beitrag von Felicitas Schmieder am Ende des Bandes unschwer ablesen lässt (499-508). Schon die einleitenden Worte des Herausgebers klingen nicht gerade ermutigend: "Der Begriff 'Akkulturation' - wie immer man ihn auffassen will - umgreift eine der großen Herausforderungen unserer Zeit. Und wer sich nicht selbst in dieser oder jener Weise von dieser Problematik betroffen sehen sollte, wird dennoch kaum die Augen vor ihr verschließen können: alle Medien sind voll davon." (9) Mit der "Problematik" ist wohl vor allem die brisante Debatte darüber gemeint, wie mit der Immigration nach Europa umzugehen sei. Die von diesem Absatz geweckte Erwartung, der Sammelband könne maßgeblich zu dieser öffentlichen Debatte beitragen - was sicherlich aufregend wäre, kämpft die Mediävistik doch wie viele geisteswissenschaftliche Fächer mit einem Rückgang gesellschaftlicher Legitimation - wird allerdings schon im nächsten Absatz enttäuscht: "So wenig wie auch anderswo kann es auch auf einer Reichenau-Tagung oder in einem Band der 'Vorträge und Forschungen' darum gehen, sich aus dem Mittelalter Rezepte für die Bewältigung von Problemen der Gegenwart zu holen." Was ist dann das Ziel des Bandes? Das ist die Gretchenfrage, um bei dem Autor zu bleiben, der in der Einleitung als maßgebende Autorität zu Wort kommt: "Ein echter deutscher Mann mag keinen Franzen leiden, doch ihre Weine trinkt er gern." (11) Goethe war sicher kein schlechter Kultursoziologe, seine Charakteristik könnte zumindest zum Teil auch für manche Autoren des vorliegenden Bandes herhalten - ist doch die Rezeption der gegenwärtigen nichtdeutschen Forschung - von den eher eigenwillig zitierten Klassikern abgesehen - oft bescheiden.

Dies kommt schon in dem Schlüsseltext des Bandes von Thomas Ertl (17-41) zum Ausdruck, und das ist schade, denn nicht wenige Beiträge richten sich nach dieser methodologischen Einleitung. Letztlich wird hier die Problematik auf den kleinsten gemeinsamen Nenner reduziert: Als eine Art Rettungsring im Meer der Forschungsimpulse der letzten fünfzig Jahre, auf deren zumindest rahmenhafte Darstellung der Autor verzichtet, wird das Memorandum for the Study of Acculturation herangezogen, formuliert im Jahr 1936 von Robert Redfield, seine "check-list der Kulturbegegnung" (33-34). Deren Lektüre kann leider leicht den Eindruck erwecken, dass die Mediävistik auf jede intellektuelle Bewegung nach vorne verzichten sollte. Die Mehrheit der Autoren scheint generell eindeutige taxonomische Fahrpläne zu bevorzugen. Diese haben zumindest einen deutlichen Nachteil: Sie setzen eine eher statische Vorstellung von Kultur (bzw. Kulturen) voraus, was dem gegenwärtigen Erkenntnisstand auf diesem Feld wohl kaum entspricht. Es ist bemerkenswert, wie sehr die fachlich durchweg ausgezeichneten Autoren im Bann dieser Begrifflichkeit verharren. Obwohl sie im Grunde kollektiv das analytische Potential des Begriffes "Akkulturation" anzweifeln, kommen sie von ihm oder von dessen wie auch immer schon definierten funktionalen Äquivalenten nicht los.

Dabei geht die eigentliche Funktion dieses Begriffs (bzw. von dessen funktionalen Äquivalenten) bisweilen verloren - eine Funktion, die darin besteht, in einer bestimmten Phase der Erforschung eines Problems zur Ordnung der eigenen Gedanken beizutragen, nicht mehr, aber auch nicht weniger. Das Problem selbst, die Frage, die den Forscher antreibt, ist das Entscheidende, wie zum Beispiel Peter Štih für das eigene Thema in seinem Beitrag formuliert: "Ungeachtet der Fragwürdigkeit der Begriffe, mit denen man die damalige Welt zu beschreiben versucht, steht es jedenfalls fest, dass sich im behandelten Raum [...] Verhältnisse und Voraussetzungen herausbildeten, die neu waren und in mancher Hinsicht eine radikale Änderung der alten Lebensordnung mit sich brachten und den Ausgangspunkt für eine Reihe von Prozessen in Gang setzten [sic!], die schließlich zur Herausbildung des [...] komplexen Kulturraumes führten." (239-240) Leider gewinnt man in dem vorliegenden Band nur zu leicht den Eindruck, dass der Begriff hier die Position von Dostojewskijs Großinquisitors repräsentiert, dessen finstere Gestalt über das Sein und Nicht-Sein einer wissenschaftlichen Idee zu entscheiden hat.

Und das ist wirklich schade, weil die einzelnen Beiträge des Bandes höchst qualitätsvolle, oft fundamentale, wenn auch manchmal etwas enzyklopädisch aufgefasste Analysen, Interpretationen und Narrative zu den wichtigsten Orten der kulturellen Begegnung im mittelalterlichen Europa bieten (Spanien, Südosteuropa, Ungarn, Slavia Asiatica, Alpenraum, Germania Slavica, Italien und Mittelmeerraum, Palästina, Normandie und England, Skandinavien und Baltikum). Jeder einzelne Beitrag kann als eine Einladung in die faszinierende Welt der kulturellen Wandlung in der Geschichte gelesen werden, jeder einzelne eröffnet neue Perspektiven, zeichnet neue Horizonte, und formuliert neue Akzente, die nicht nur die Mediävistik, sondern auch die in der gegenwärtigen Gesellschaft so wichtige Debatte über die Phänomene der Migration und Akkulturation zweifellos bereichern werden. Es sind Texte, auf denen die weitere Forschung zuversichtlich und erfolgreich bauen kann. Es sind auch Texte, aus denen die öffentliche Debatte eine reflektierende Selbsterkenntnis schöpfen kann. Und das ist nicht gerade wenig. Denn darum geht es. Es geschieht etwas Bemerkenswertes in diesem Buch: Die geteilte Skepsis des Autorenkollektivs wird durch dessen wissenschaftliche und darstellerische Leistung widerlegt. Was unendlich viel besser ist, als wenn es umgekehrt wäre.

Pavlína Rychterová