Rezension über:

Dirk Schindelbeck / Christoph Alten / Gerulf Hirt u.a. (Hgg.): Zigaretten-Fronten. Die politischen Kulturen des Rauchens in der Zeit des Ersten Weltkriegs (= PolitCIGs - Die Kulturen der Zigarette und die Kulturen des Politischen: Zur Sprache der Produkte im 20. und 21. Jahrhundert; Bd. 1), Marburg: Jonas Verlag 2014, 176 S., ISBN 978-3-89445-496-8, EUR 25,00
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Rezension von:
Nicole-Melanie Goll
Institut für Geschichte, Karl-Franzens-Universität, Graz
Redaktionelle Betreuung:
Nils Freytag
Empfohlene Zitierweise:
Nicole-Melanie Goll: Rezension von: Dirk Schindelbeck / Christoph Alten / Gerulf Hirt u.a. (Hgg.): Zigaretten-Fronten. Die politischen Kulturen des Rauchens in der Zeit des Ersten Weltkriegs, Marburg: Jonas Verlag 2014, in: sehepunkte 15 (2015), Nr. 5 [15.05.2015], URL: https://www.sehepunkte.de
/2015/05/26126.html


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Dirk Schindelbeck / Christoph Alten / Gerulf Hirt u.a. (Hgg.): Zigaretten-Fronten

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Unter den 2014 aus Anlass des 100-jährigen Gedenkens des Beginns des Ersten Weltkrieges erschienenen Publikationen zeichnet sich die vorliegende Studie besonders aus, da sie sich, dem "material turn" zugewandt, den Ereignissen des Ersten Weltkriegs aus der Perspektive eines während des Krieges für seine "Benützer" stetig an Bedeutung gewinnenden Alltagsgegenstandes nähert: der Zigarette. Dieser Zugang erscheint geradezu erfrischend. So rückt dieses Genussmittel, das sich erst kurz vor Beginn des "Großen Krieges" als Markenartikel durchgesetzt hatte und gesellschaftsfähig wurde, sowie die Kultur des Rauchens in den Mittelpunkt des Interesses des Forschungsverbundes "PolitCIGs". Die vorliegende Studie leistet damit einen wichtigen Beitrag zur Alltags- und Mentalitätsgeschichte des Ersten Weltkrieges, beschränkt sich räumlich gesehen allerdings auf das Deutsche Reich und - etwas nachgereiht - den cisleithanischen Teil Österreich-Ungarns. Der von den Autoren gewählte Titel soll die Widersprüche des Produktes verdeutlichen (14): "Front" dient hier als Abgrenzung, Trennlinie, Nahtstelle und Kampfraum: zwischen alten und neuen Formen des Tabakkonsums und den damit verbundenen Vorstellungen, Werten und Botschaften, die im Wettstreit miteinander standen; zwischen RaucherInnen und NichtraucherInnen, die sich gegenseitig überzeugen versuchten, aber auch als Kampfraum, in dem verschiedene (in- und ausländische) Akteure um die Vorherrschaft am (deutschen und österreichischen) Markt stritten. Die aufgeworfenen Kernfragen, wie etwa jener, welchen Wandel die Kultur des Rauchens und die damit verbundene Kultur des Politischen durchläuft, oder etwa nach dem Innovationspotenzial und der Besonderheit der Zigarette werden ebenso beantwortet wie jene nach den Auswirkungen des "Großen Krieges" auf dieses Produkt und die Rauchkultur.

Der vorliegende Band gliedert sich in zwei Hauptkapitel. Das Autorenteam zeichnet im ersten Abschnitt zunächst den Entwicklungsweg des Tabaks bzw. Rauchens vom "Werk des Teufels" zum gesellschaftlich akzeptierten Genuss- und Rauchmittel zu Beginn des 18. Jahrhunderts nach. Während die erste Zigarrenproduktion bereits 1788 in Hamburg errichtet worden war, erfuhr die aus den lateinamerikanischen Kolonien nach Spanien und damit Europa importierte Zigarette erst durch den Krimkrieg auch in Mitteleuropa eine Ausbreitung. Ab diesem Zeitpunkt war ihr Siegeszug nicht mehr aufzuhalten, sie wurde gesellschaftsfähig. Davon zeugt auch das enorme Wachstum des Zigarettenmarktes, der aber auch hart umkämpft war: 1913 waren bereits 1.013 Betriebe im Deutschen Reich angesiedelt (29). Im Gegensatz zur Zigarre galt diese - wie die Autoren belegen - als Ausdruck der Moderne, als modisch, offen und liberal, transportierte damit gewisse (Lebens-)Vorstellungen und eröffnete, nicht zuletzt dank der Werbemaßnahmen, neue Welten, war also, wie die Autoren behaupten, ein "frühes Lifestyle-Produkt, das seiner Zeit in gewisser Weise voraus war."(12). Vor 1914 war der Zigarettenkonsum über Geschlechter- und Altersgrenzen hinweg angestiegen, hatte ein neues Zielpublikum erschlossen, nicht ohne gesellschaftliche Kritik an rauchenden Frauen und ihrer "gedankenlosen Nachäfferei" (57) zu üben - so dass nicht nur der Konsum anstieg, sondern auch die Bedeutung des Produkt und seines Marktes für den Staat im Sinne einer Einnahmequelle durch die stetig steigende staatliche Besteuerung und einsetzende Massen-Produktion.

Vor dem Ersten Weltkrieg war die Zigarette nicht nur ein transnationales Produkt, sie eröffnete den RaucherInnen auch eine neue Welt, deren Vorzüge medial durch entsprechende Werbemaßnahmen verbreitet wurden. Dies wird besonders schön durch ausgewählte Illustrationsbeispiele wie etwa zeitgenössische Werbeplakate, Zigarettenverpackungen etc. verdeutlicht. Ein kosmopolitisches Produkt, dessen Rohstoff aus dem Orient importiert wurde, dem griechisches Know-how zu Grunde lag und in Deutschland vor allem in Dresden (als heute noch sichtbares Zeichen die im Stile einer Moschee erbaute Zigarettenfabrik Yenidze) oder Berlin hergestellt und schließlich mit Sujets der Upper Class, internationalen High Society, dem Adel und einem Hauch von Orient vermarktet wurde. Erst am Vorabend des Ersten Weltkrieges erfuhr Markt und Vermarktung eine zunehmende Politisierung und Nationalisierung. Für diesen Teil ihrer Arbeit diente den Autoren neben Werbemittelarchiven, die Tabakhistorische Sammlung der Reemtsma Cigarettenfabrik, deren reichhaltiges Material wie Werbeplakate, Zigarettenverpackungen und -dosen, Fotos und Bildpostkarten zur Illustration herangezogen wurde, als Quellenbasis.

In einem zweiten längerem und im Vordergrund stehenden Abschnitt zeichnen die Autoren den Wandel dieses Lifestyle-Produktes nach: die Zigarette zog in den Krieg. Marken wurden umbenannt, mit nationalistischen-militärischen Botschaften versehen. Für den Soldaten an der Front wurde sie zu einem Überlebensmittel: zur Bekämpfung von Hunger, Durst und Langeweile, als Beruhigungsmittel und Nervennahrung, gegen Langeweile. Die Zigarette entwickelte sich mit Andauern des Krieges immer mehr zu einem Zahlungs- bzw. Bestechungsmittel, zu einem Medium der Begegnung wenn die Sprache versagte zwischen Kameraden, Feinden und Kriegsgefangenen, aber auch zu einem Mittel der Ab- und Ausgrenzung und Selbstdarstellung. Als wichtiger Bestandteil der Liebesgabensammlungen wurden diese millionenfach an der Heimatfront gesammelt und an die Soldaten an den Einsatzorten verschickt. Wie wichtig die Versorgung der Soldaten mit Rauchmittel war, zeigen auch die Versuche, diese sowohl von deutschen als auch österreichischen Behörden zentral zu steuern. Die entstehenden Versorgungsprobleme hatten schließlich auch Auswirkungen auf die Verteilung und Lieferung der Rauchmittel an den Fronten. Es entstanden Engpässe, ab 1917 hatte der vorherrschende Rohstoffmangel auch Auswirkungen auf das Produkt selbst: die Qualität ließ nach - was sich auch in den Einträgen in Tagebüchern von Kriegsteilnehmern widerspiegelt: "Marke Handgranate: Anzünden und Wegwerfen" hielt etwa Einzug in die Sprache der Soldaten. (96) Diese Verschlechterung und die Engpässe in der Versorgung hatten schließlich auch Auswirkungen auf die Moral - waren daher auch aus staatlicher Sicht ein Politikum, dem man entsprechend begegnen musste. Nicht wenige Soldaten schritten zur "Selbsthilfe", sie versuchten, sich Abhilfe zu verschaffen: sei es durch Tausch oder etwa durch die Erbeutung von "feindlicher" Zigaretten in aufgelassenen Schützengräben. Hier sollten sich besonders nordamerikanische Zigaretten höchster Beliebtheit erfreuen - ein Umstand, der auch im 2. Weltkrieg fortgesetzt werden sollte. In diesem Teil wurden von den Autoren vor allem Auszüge aus Tagebüchern, Feldpostbriefen und Kriegsromanen sowie (propagandistische) Bildquellen vornehmlich aus dem Bestand der Österreichischen Nationalbibliothek verwendet und ausgewertet, oftmals jedoch versucht, zu viel aus den jeweiligen Bildern herauszulesen.

Insgesamt ist die sorgfältige und detailreiche Gestaltung des Bandes besonders hervorzuheben. Die Illustration und Auswahl der Bilder ist besonders gelungen, sie unterstreicht in idealer Form den sehr gut lesbaren und informativen Text. Als kleiner Kritikpunkt wäre sicherlich anzubringen, dass trotz anderslautendem Hinweis in der Einleitung, der Fokus der vorliegenden Studie auf dem deutschen Raum und damit auch auf deutsche Quellen gelegt wurde. Hier wäre es sicher sinnvoll gewesen, auch österreichische Archive bzw. jene österreichischer bzw. ungarischer Zigarettenproduzenten heranzuziehen, um einen entsprechenden Vergleich ziehen zu können. Insgesamt ist festzuhalten, dass die vorliegende Studie sowohl für das Fach- als auch für ein breites und interessiertes Publikum sehr empfehlenswert ist.

Nicole-Melanie Goll