Herfried Münkler: Der Große Krieg. Die Welt 1914 bis 1918, Berlin: Rowohlt 2014, 924 S., zahlr. Abb., ISBN 978-3-87134-720-7, EUR 29,95
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Pünktlich zum 100. Jubiläum hat auch der renommierte Berliner Politikwissenschaftler Herfried Münkler ein voluminöses Werk über den Ersten Weltkrieg vorgelegt. Auf über 900 Seiten entfaltet Münkler in gut lesbarer Sprache ein facettenreiches Panorama des "Großen Krieges". In neun Kapiteln spannt er den Bogen von den "langen und kurzen Wegen in den Krieg" bis hin zu dessen Lehren "als politische Herausforderung" für die Nachwelt.
Dabei kommen auch die traditionellen Fragen nach den Ursachen des Krieges, den verfolgten Zwecken und den Gründen für die Weiterführung des Krieges, nachdem die ersten Operationspläne blutig gescheitert waren, aufs Tapet. Im Kern geht es aber vor allem um das Versagen der politisch-militärischen Eliten des wilhelminischen Deutschlands, die erst den "Großen Krieg" billigend in Kauf genommen hatten und dann vier Jahre lang keinen Ausweg aus dem Dilemma fanden.
Im Hinblick auf die "Kriegsschuldfrage" fällt Münklers Bilanz jedoch gemischt aus. Einerseits attestiert er Entente und Balkanbund eine "Strategie der doppelten Einkreisung" gegen Deutschland und Österreich-Ungarn (106). Andererseits stellt er fest, dass Deutschland seiner Verantwortung als Großmacht in der Mitte Europas "eine politisch besonders achtsame und die Eskalationsrisiken moderierende Politik" (104) zu betreiben, 1914 nicht nachgekommen sei und stattdessen sogar eine gegenteilige Politik verfolgt habe.
Den Verlauf, die verfolgten strategischen Kalküle, die angewandten taktischen Verfahren und die kollektiven Erfahrungen des Krieges referiert Münkler anschaulich und effizient auf Basis des historiografischen Forschungsstandes. Allerdings ist diese Darstellung nicht frei von Ungenauigkeiten im Detail. So werden die österreichisch-ungarischen Streitkräfte trotz seit 1866 bestehender Wehrpflicht als "Berufsarmee" (40) charakterisiert oder die Aufforderung Kaiser Wilhelms II. an Generalstabschef Moltke, "den Aufmarsch im Westen zu stoppen und die Truppen in den Osten umzudirigieren" wird vom 1. August auf den 30. Juli 1914 vordatiert (81).
Nicht immer stützt sich Münkler zudem auf den aktuellen Forschungsstand. Das wird etwa bei seiner Darstellung der leitenden Hinsichten für die deutsche Heeresrüstungspolitik deutlich (65). Dazu referiert er zwar ausführlich die ältere Arbeit von Stig Förster. Das derzeitige Standardwerk von Oliver Stein mit seinen von Försters Deutung erheblich abweichenden Befunden findet hingegen nicht einmal Eingang ins Literaturverzeichnis. [1]
Wo Münkler das gesicherte Terrain des Forschungsstandes verlässt und sich jenseits davon zu Motiven und Handlungsoptionen der zeitgenössischen Akteure äußert, werden überdies zum Teil erhebliche argumentative Unschärfen offenkundig. Das betrifft die nicht weiter begründete Vermutung: "Möglicherweise wurde die Brutalität des deutschen Vorgehens in Belgien gezielt eingesetzt, um einen vermeintlich im Entstehen begriffenen Partisanenkrieg im Ansatz zu ersticken." (123) ebenso wie seine Interpretation des Abzugs zweier Armeekorps vom rechten deutschen Heeresflügel Ende August 1914. Für Münkler ist Moltkes Entscheidung "nur damit (zu) erklären, dass er am 25. August, als er die beiden Korps nach Ostpreußen in Marsch setzte, den Schwerpunkt der Operationen nach Lothringen verlegen wollte." (160) Das ist zwar eine innovative, aber mit Blick auf die deutsche Kräfteverteilung an der Westfront und die schlechten Aussichten in Lothringen feldzugsentscheidende Erfolge zu erzielen, kaum überzeugende These.
Hinsichtlich der attestierten operativen Möglichkeiten wäre zum Teil eine eingehendere Würdigung der zeitgenössischen Begleitumstände sinnvoll gewesen. So sieht Münkler "während der letzten August- und ersten Septemberwoche" 1914 für die deutsche Kavallerie "eine der wenigen Gelegenheiten, entscheidend in die Kämpfe einzugreifen." (159) Bei Lichte besehen war dies jedoch nicht der Fall. Das lag nicht allein daran, dass die alliierte Abwehr - wie Münkler selbst im Nachsatz anmerkt - "die Beschleunigungseffekte durch Kavallerieattacken" (160) blockierte, sondern hing wesentlich mit der geradezu lähmenden Erschöpfung der Pferde zusammen, die nach den Strapazen der ersten Kriegswochen kaum noch zu einer schnelleren Gangart als Schritt in der Lage waren.
Ähnliches gilt für Münklers These, dass im Sommer 1918 eine Fortsetzung der britischen Offensive bei Amiens über den 11. August hinaus zu einem tiefen und möglicherweise entscheidenden Einbruch in die deutsche Front geführt haben könnte (716). Gegen diese Möglichkeit sprachen vor allem zwei Umstände. Zum einen waren bereits am Abend des ersten Angriffstages - 8. August 1918 - zwei Drittel der für die Offensive bereitgestellten Panzer ausgefallen, sodass drei Tage später kaum noch einsatzbereite Panzer zur Verfügung standen. Zum anderen hätte eine Fortsetzung der Offensive unweigerlich bedeutet, dass man in das schwer gangbare Trichtergelände der Somme-Schlacht geraten wäre. Beide Aspekte waren für das alliierte Oberkommando Grund genug, die Offensive am Abend des 11. August 1918 einzustellen.
Überzeugender und mitunter höchst anregend liest sich "Der Große Krieg" hingegen immer dort, wo Münkler sein sozialwissenschaftliches Instrumentarium und seine geistesgeschichtliche Expertise in Anschlag bringen kann. Das reicht von Aspekten der Spieltheorie (59) über Typologien von Heldenbildern (465) und Revolten (616) bis hin zu der - in Überblickswerken zum Ersten Weltkrieg sonst allenfalls am Rande behandelten - propagandistischen Rolle der deutschen Geisteswissenschaften (513). Für die Schärfung des analytischen Blicks sind nicht zuletzt Münklers Überlegungen zur Kriegsursachenanalyse hervorzuheben (780).
Vereinzelt gerät der Gedankenflug bei Abstraktion und Typologisierung jedoch auch allzu kühn. So wird der deutsche Stahlhelm M 16 zunächst nachvollziehbar als "Identitätsmarker" charakterisiert, um dann zu schlussfolgern: "indem der Helm mit der Gestalt des Kämpfers verschmolz, war dieser nicht mehr auf den Sieg, sondern auf den Kampf als Selbstzweck fixiert." (424) Hier dürften zumindest für die Masse der Frontsoldaten Zweifel angebracht sein.
Resümierend ergibt sich ein zwiespältiges Bild. Einerseits hat Herfried Münkler eine flüssig geschriebene Darstellung des Ersten Weltkrieges vorgelegt, die auch für ein breites Publikum gut lesbar ist. Seine zum Teil originellen Deutungs- und Typologisierungsangebote sind es außerdem wert, in der historischen Forschung zum Ersten Weltkrieg diskutiert und systematisiert zu werden.
Andererseits hat das Buch auch deutliche Defizite. So wird der Anspruch einer "Gesamtdarstellung" nur eingeschränkt eingelöst. Im Zentrum steht vor allem das Deutsche Reich, während die Rolle der anderen am Krieg beteiligten Mächte lediglich schlaglichtartig beleuchtet wird. Hinzu kommen die erwähnten argumentativen Unschärfen. Nicht selten werden anregende Thesen in den Raum gestellt, ohne sie hinreichend mit Quellen oder zumindest einer stringenten Argumentation zu unterfüttern. Die argumentative Präzision weist an diesen Stellen erkennbare Reserven auf.
Anmerkung:
[1] Stig Förster: Der doppelte Militarismus. Die deutsche Heeresrüstungspolitik zwischen Status-quo-Sicherung und Aggression 1890-1913, Wiesbaden 1985; Oliver Stein: Die deutsche Heeresrüstungspolitik 1890-1914. Das Militär und der Primat der Politik (= Krieg in der Geschichte; Bd. 39), Paderborn u.a. 2007.
Christian Th. Müller