Rezension über:

Eberhard Straub: Der Wiener Kongress. Das große Fest und die Neuordnung Europas, Stuttgart: Klett-Cotta 2014, 255 S., 13 Abb., ISBN 978-3-608-94847-9, EUR 21,95
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Rezension von:
Manfred Hanisch
Historisches Seminar, Christian-Albrechts-Universität zu Kiel
Redaktionelle Betreuung:
Nils Freytag
Empfohlene Zitierweise:
Manfred Hanisch: Rezension von: Eberhard Straub: Der Wiener Kongress. Das große Fest und die Neuordnung Europas, Stuttgart: Klett-Cotta 2014, in: sehepunkte 15 (2015), Nr. 7/8 [15.07.2015], URL: https://www.sehepunkte.de
/2015/07/26677.html


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Eberhard Straub: Der Wiener Kongress

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Das Buch ist ein langer, unterhaltsamer Essay eines bildungsgesättigten Mannes, der in Europa alt geworden ist, der weiß um die gefahrvollen Irrwege des Nationalismus, des Sozialismus und der Demokratie, der die Leistungen des Wiener Kongresses verklärt und der Antworten auf Probleme der Gegenwart in der Orientierung an der Vergangenheit sucht. So könnte man den Gehalt des Buches in einem Satz zusammenfassen. Und so kann man auch das schwierige Motto des Buches am Eingang verstehen, das sich nur jenen wahrhaften Europäern erschließt, die unter vielen anderen Sprachen Europas auch das Italienisch des wohl wahlverwandten Journalisten und Poeten Carolus Cergoly verstehen: "Bisogna vivere questa nostra vita come se fosse vita vissuta nel mondo di ieri". (Man muss dieses unser Leben leben, so als ob es das wahre Leben wäre in der Welt von gestern.)

Das Buch ist ein langer Essay, der nicht nur 255 Seiten lang ist, sondern auch über ein langen Zeitraum geht: Über die gesamte Geschichte Europas vom Wiener Kongress bis zum Ersten Weltkrieg. Man sieht es dem Titel nicht an. Der innere Grund: So lange währte nach einer weder neuen noch unumstrittenen These die Fortwirkung des Wiener Kongresses, trotz Revolution 1848 und Krimkrieg, trotz italienischem Einigungskrieg und deutschen Einigungskriegen. Denn bei all diesen Kriegen wurde immer der Gegner respektiert und Krieg war - kabinettkriegsgleich - stets nur Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln. Nie war der Gegner das moralisch Böse, das man im Namen einer höheren Idee vernichten muss. Die Friedensschlüsse waren dann, so Straub, immer im Geiste des Wiener Kongresses auf Ausgleich bedachte Einigungen, mit denen auch der Besiegte leben konnte, so wie Frankreich auch nach 1815 nicht aus dem europäischen Mächtekonzert ausgestoßen wurde, sondern trotz der Schrecken der napoleonischen Kriege anerkannter Mitspieler im europäischen Gleichgewicht blieb.

Für die lange Wirkung des Wiener Kongresses spricht noch etwas anderes: Die großen Mächte Europas stießen bis 1914 eben nie alle zusammen. Bei den kriegerischen Konflikten gab es immer neutrale Großmächte und nicht zuletzt deshalb immer den Zwang zum mitunter sehr schnellen Ausgleich zwischen den Krieg führenden Parteien. Das Mächtesystem des Wiener Kongresses blieb eben bis 1914 im Grundsatz intakt, so Straub.

Das Buch ist ein unterhaltsamer Essay, nicht bloß gut geschrieben, sondern erzählt auch Geschichten und hält manche Anekdoten bereit. Der Leser erfährt z. B., wie unmöglich sich die Schwester des Zaren Alexander, die Großfürstin Katharina, mit ihrem nervösen Magen auf dem Wiener Kongress gerierte, wie die hohen Herrschaften bei den zahlreichen Banketten kräftig das Tafelsilber mitgehen ließen, wie die österreichische Geheimpolizei bestens über alles im Bild war - die amourösen Eskapaden eingeschlossen. Also viel ausgebreitetes, buntes gesellschaftliches Leben der Großen, der Reichen, der Mächtigen. "Der Wiener Kongress. Das große Fest" eben, wie im Titel auch steht. Ein Fest, das wie man so nebenbei erfährt, die österreichische Staatskasse ebenso belastete wie so mancher Feldzug vorher.

Mit solchen breiten Schilderungen ist das Buch auch ein Beitrag zur Alltags- und Mentalitätsgeschichte vornehmlich der aristokratischen Welt um 1815. Für die hohen und minder hohen Herren (und Frauen) war der Wiener Kongress in dem auch für sie häufig erlebnisarmen Alltag das gesellschaftliche Ereignis schlechthin und Wien die faszinierende Hauptstadt mit den vielen ganz unaristokratischen Möglichkeiten von Vergnügungen und Lüsten, denen man ganz ohne Etikette ganz bürgerlich nachgehen konnte, z. B. auch der Lust am Einkaufen - Shopping in einer Metropole eben und die meisten Schlösser der hohen Herren lagen in der Provinz. Hier in Wien konnte man auch als Fürst ganz einfach Mensch sein. Man war sich nahe und kam sich näher. Das gesellschaftliche Leben wirkte ungemein egalisierend und war auch deshalb so anregend. Allein wegen solcher detailreichen Schilderungen würde sich die Lektüre lohnen.

Das Buch ist durch und durch ein Essay, und das heißt nicht nur: Keine einzige wissenschaftliche Anmerkung! Nur eine gut zusammengestellte Liste mit ausgewählter Literatur am Schluss. Essays geben nun einmal keine wissenschaftlichen Kontroversen wieder. Sie spitzen ihre These zu. Differenzierungen sind ihre Sache nicht so sehr. Das alles trifft auf das Buch zu.

Und die alles übergreifende These des Buches bei aller Lust am anekdotischen Detail: Europa muss zurückfinden zu einer Politik des ideologiefreien und das heißt mitunter auch eines sehr moralfreien Interessenausgleichs, muss Abstand nehmen von den beglückenden Verheißungen des Nationalismus, des Sozialismus und mehr zwischen den Zeilen auch der Vorstellung, dass alles sehr demokratisch zugehen muss. Eben zurückfinden in die Welt von gestern, "nel mondo di ieri", zu einer Politik, welche von gegenseitigem Respekt so durchdrungen ist, dass dieser Respekt auch krasse Unebenheiten, Inkonsistenzen und Ungerechtigkeiten in dem Pluriversum Europa aushält. Kurzum: Zurück zur segensreichen Staatskunst eines Metternichs, für den Interessenausgleich und friedenserhaltende Machtgeometrie Vorrang hatten vor der Verwirklichung hehrer Ideale! So deutlich ist "Zurück zu Metternich" zwar nirgends ausgesprochen. Aber man kann das Buch durchaus so lesen: Der Wiener Kongress als Lehrstück für die Welt von heute, darin den Auffassungen des amerikanischen Außenministers Henry A. Kissinger nahe, der 1956 über den Wiener Kongress seine Dissertation geschrieben hat.

Wenn nebenbei noch solche Sätze fallen wie "die Briten, die es immer abgelehnt hatten, sich auf einengende vertragliche Bindungen einzulassen. Sie hatten sich stets mit Improvisationen begnügt und misstrauten einer Politik, die vorsichtig und umsichtig künftige Gefahren bedachte, um ihnen vorzubeugen" (132/133), dann sieht man: Solche Aussagen behandeln nicht nur die fernen Zeiten vor 200 Jahren sondern zielen auch auf das Heute.

Aber verklärt das Buch nicht allzu sehr? Kein Wort z. B. über die absurde Fortexistenz von Winz-Fürstentümern wie "Reuß jüngere Linie" (bis 1920!). Sehr viel Hinwegsehen über die Schattenseiten von Restauration und Reaktion, über Demagogenverfolgung und Pressezensur und das an so vielen Orten erstickende soziale und politische Klima. Viel Verständnis für all die Ungerechtigkeiten, die mit der Restauration einhergingen. Wird das alles wirklich aufgewogen durch die 100 Jahre friedenserhaltende bzw. kriegsmäßigende Fortwirkung des Wiener Kongresses?

Auf solche Einwände einzugehen heißt auf - im Übrigen sehr alte - Kontroversen eingehen. Aber das Buch ist ein Essay. Essays dürfen nun einmal Dinge einseitig sehen. Gute Essays regen dann zum Nachdenken an, mitunter auch zu einem Gegen-den-Strich-Denken. Eberhard Strauch hat einen exzellenten Essay geschrieben über den Wiener Kongress, über "Rauschende Bälle, Intrigen, Affären und Diplomatie" (Einbandtext) mit einer dezidierten, politischen Botschaft aus der Welt von Gestern für unser Heute.

Manfred Hanisch