Adam Zamoyski: 1815. Napoleons Sturz und der Wiener Kongress. Aus dem Englischen von Ruth Keen und Erhard Stölting, München: C.H.Beck 2014, 704 S., 47 Abb., 28 Karten, ISBN 978-3-406-67123-4, EUR 29,95
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Nach Adam Zamoyskis "monumentaler Geschichts-'Erzählung'" von Napoleons Russlandfeldzug "1812" [1] liegt nun die Übersetzung der "Fortsetzung" vor, seines Werkes zum Wiener Kongress. Wie in "1812" kompiliert der Verfasser diverse Zeitzeugenberichte (sporadisch ergänzt von Archivquellen) zu einer höchst anschaulichen und farbenfrohen Erzählung. Er will damit "Erklären", wie die Verhandlungen abliefen und wie die "Wiener Ordnung" zu Stande kam (10). Zamoyski porträtiert daher die Akteure menschlich und politisch, etwa hinsichtlich ihrer unterschiedlichen Handlungsfreiheit: Der russische Unterhändler Nesselrode etwa sei von Monarchen aufs engste kontrolliert worden, Hardenberg für Preußen wiederum habe die öffentliche Meinung in Berlin, die maximalen Lohn für die preußischen Kriegsanstrengungen forderte, berücksichtigen müssen, wohingegen der britische Außenminister Castlereagh relativ frei in seinem Vorgehen gewesen sei.
Der Hintergrund, dass die Großmächte vor 1813 wiederholt auch auf der Seite Frankreichs gegeneinander gekämpft hatten, hätte einen "giftigen Schleier des Mißtrauens" über die Koalition gelegt (99), worin Zamoyski eine Grundkonstante der Verhandlungen sieht. Ihr habe zudem ein "Leitprinzip" gefehlt. "Legitimität" sei nicht in Frage gekommen, da nicht nur Frankreich Europas alte Ordnung zerstörte, sondern auch die anderen Großmächte, etwa durch Russlands Annexion von Finnland oder die Einverleibung Venedigs in das Habsburgerreich. Eine Rückkehr zum Status quo von 1792 sei vor diesem Hintergrund nicht praktikabel gewesen. Demnach blieb nur eine partielle Umverteilung von Besitzständen, wofür der Gedanke der Machtbalance ausschlaggebend war. Der Versuch, eine machtpolitisch einigermaßen austarierte "neue Ordnung" zu finden, führte in Zamoyskis Darstellung jedoch zu einem regelrecht obszönen Gebietsschacher, in dem letztlich das Recht des Stärkeren gegolten habe, fast wie zuvor unter Napoleon.
Wichtig sind dem Verfasser die Rahmenbedingungen der diplomatischen Beratungen. Packend schildert Zamoyski das verdreckte und mit Verwundeten überfüllte Hauptquartier der Koalition von 1813 im böhmischen Teplitz (119) sowie die "Abenteuer" der Diplomaten, die ihren Geschäften 1813/14 buchstäblich auf dem Schlachtfeld nachgingen (197). Nach diesen widrigen Umständen habe die Großstadt Wien als Verhandlungsbühne neue Probleme aufgeworfen: Die Beteiligten standen unter ständiger Beobachtung, wurden systematisch ausspioniert und von den zahllosen sozialen "Events" abgelenkt (339). Bildgewaltig schildert der Autor die diversen Bälle und Feste, wobei Details wie die geschätzt "12.000 Lichter" auf dem Eröffnungsball im Oktober 1814 (327) nicht fehlen dürfen. Auch das "promiskuitive Klima" (352), das auf dem Wiener Kongress herrschte, wird ausführlich bebildert, wenn Damen wie Talleyrands Geliebte, Comtesse de Perigord, auftreten: "In ihrem bezaubernden Anblick mischten sich kindliche Unschuld und eine träumerische Glut zu verführerischer Gefährlichkeit" (312). Der "Erzähler" mag mit Zamoyski hier manchmal durchgehen, aber im Großen und Ganzen behält der Autor das Kernthema seiner Studie im Blick: Die Umstände und Determinanten diplomatischer Entscheidungsfindung, welche eben mitunter auch durch Liebeshändel beeinflusst (vor allem aber verzögert) wurde.
Die politischen Entwicklungen in Europa nach dem Wiener Kongress malt Zanmoyski in den düstersten Farben: Monarchen und Politiker wie Zar Alexander oder Metternich seien zu immer fanatischeren "Reaktionären" geworden. Metternich habe unter akuter Paranoia gelitten und überall finstere Mächte gesehen, die das "ganze europäische System zu unterminieren" versuchten (593). Die "drakonischen" Karlsbader Beschlüsse von 1819 hätten den Deutschen Bund dann in "ein äußerst repressives politisches Gebilde" verwandelt (597). Der Versuch der Siegermächte, ein regelrechtes "Kongresssystem" einzuführen, sei bereits auf dem Kongress von Verona 1822 gescheitert, angesichts tiefer Gräben zwischen den Siegermächten (606).
Nach diesem niederschmetternden Ausblick verwundert es nicht, dass der Autor positive Deutungen des Ereignisses weitgehend ablehnt: Der Kongress habe keinen "hundertjährigen Frieden" gebracht, wie es 1994 Paul W. Schroeder behauptete, erklärt Zamoyski mit Verweis auf Kriege und Bürgerkriege in Spanien, Italien, Griechenland, Belgien, Polen, Portugal sowie den Krimkrieg und den Deutsch-Französischen Krieg 1870/71 (611f.). Wien habe auch keine neue "Legitimität" kreiert, wie Henri Kissinger schon 1957 meinte, sondern ein Arrangement der Großmächte ohne Rücksicht auf die Interessen der kleineren Mächte, die zudem Reformimpulse "aus dem Volk" komplett "geächtet" hätten (615). Brutaler "Staatsterror" vor allem in Metternichs Österreich und in Russland habe "neue Generationen" der Ordnung von 1815 "entfremdet" (617). Von einem Machtgleichgewicht in Europa habe angesichts der gravierenden Stärkung Großbritanniens und Russlands als Ergebnis der Revolutionskriege keine Rede sein können.
Zamoyski räumt zwar ein, dass sich die gewaltigen Herausforderungen, vor denen die Diplomaten und Monarchen 1814/15 standen, "jeder idealen Lösung" entzogen hätten. Auch hätten "Idee" und "Praxis" von "Beratung und Kooperation" das Scheitern des Kongresssystems 1822 überlebt (624). Aber die in Wien geschaffene Stabilität sei doch nur ein "Trugbild" gewesen (626). "Ganze Klassen und Nationen" seien vom "gesellschaftlichen Wohlstand" ferngehalten worden. "Sozialismus und aggressiver Nationalismus" seien die Folgen gewesen. Zamoyskis Fazit lautet daher, dass die Schrecken der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zumindest mittelbar auf die verkorkste Friedensordnung von Wien zurückzuführen seien (627). Von der "diplomatischen Sternstunde", die Reinhard Stauber im Wiener Kongress sieht, bleibt demnach bei Zamoyski wenig übrig. Im Lichte der neueren, insbesondere deutschsprachigen Forschungen könnte man Zamoyskis rabenschwarzes Porträt des Kongresses und vor allem von dessen Folgen als Summe aller mittlerweile in Frage gestellter Klischees und "national" gefärbter (Fehl)-Urteile lesen. Tatsächlich muss Einsteigern in die Thematik dringend empfohlen werden, ausgeglichenere Abhandlungen wie die von Heinz Duchhardt [2] als Kontrastfolie neben Zamoyskis Darstellung zu legen.
Aber die Lektüre lohnt sich dennoch aus zwei Gründen: Erstens schildert Zamoyski eindrücklich die Faktoren und Umstände, die diplomatische Entscheidungsprozesse der Zeit beeinflussten. Zweitens läuft die Revision der "nationalen" Verurteilung des Kongresses und seiner Ordnung mitunter Gefahr, ins andere Extrem umzuschlagen und die tatsächlichen Defizite gar zu gering zu gewichten. Eine "Negativgeschichte" wie von Zamoyski kann hierzu ein durchaus sinnvolles Korrektiv sein.
Anmerkungen:
[1] Vgl. Manfred Hanisch: Rezension von: Adam Zamoyski: 1812. Napoleons Feldzug in Russland, München: C. H. Beck 2012, in: sehepunkte 12 (2012), Nr. 7/8 [15.07.2012], URL: http://www.sehepunkte.de/2012/07/21162.html
[2] Vgl. Nils Freytag: Rezension von: Heinz Duchhardt: Der Wiener Kongress. Die Neugestaltung Europas 1814/15, München: C.H.Beck 2013, in: sehepunkte 13 (2013), Nr. 12 [15.12.2013], URL: http://www.sehepunkte.de/2013/12/23617.html
Sebastian Dörfler