Márta Fata: Migration im kameralistischen Staat Josephs II. Theorie und Praxis der Ansiedlungspolitik in Ungarn, Siebenbürgen, Galizien und der Bukowina von 1768 bis 1790, Münster: Aschendorff 2014, XI + 451 S., ISBN 978-3-402-13062-9, EUR 55,00
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Angesichts der gegenwärtigen Entwicklungen kann eine Arbeit wie das vorliegende Buch aktueller kaum sein. Migration ist ein globales und ubiquitäres Phänomen. Doch Migration ist nichts Neues, Außergewöhnliches oder eine vorübergehende Erscheinung, wie dies in der aktuellen Diskussion manchmal durchscheint. Der Blick in die Vergangenheit zeigt, dass Auswanderung wie Einwanderung aus politischen, religiösen und wirtschaftlichen Motiven der Normalfall der Geschichte war. Migration ist ein Grundelement menschlicher Existenz. Die Menschheitsgeschichte ist zugleich eine Wanderungsgeschichte. Der Homo sapiens ist zugleich ein "Homo migrans", wie dies der Migrationsforscher Klaus Bade betonte: Wanderungen gehören ebenso zur Conditio humana wie Geburt, Fortpflanzung, Krankheit und Tod.
Márta Fata bezeichnet ihrerseits in ihrer Arbeit, die 2011 von der Philosophischen Fakultät der Eberhard Karls Universität Tübingen als Habilitationsschrift angenommen wurde und die aus dem Forschungsprojekt "Einwanderungen der Deutschen in das Königreich Ungarn zur Zeit Josephs II." am Institut für donauschwäbische Geschichte und Landeskunde in Tübingen hervorgegangen ist, das 18. Jahrhundert im Königreich Ungarn als "Säkulum der Einwanderungen".
Zunächst legitimiert die Autorin ihr Vorhaben durch eine differenzierte Auseinandersetzung mit der geschichtswissenschaftlichen Forschung zum Thema und arbeitet dabei die Notwendigkeit der Betrachtung von Theorie und Praxis der politischen, ökonomischen, sozialen und bevölkerungspolitischen Bestrebungen Josephs II. heraus. Daraus ergibt sich die Fragestellung der Arbeit, die Untersuchung "der Rolle der Siedlungsmigration für Theorie und Praxis des kameralistischen Staats zur Regierungszeit Josephs II." (30). Es geht Fata um Ursachen, Ziele und Methoden der staatlich organisierten Einwanderung sowie um das landesfürstliche Handeln in diesem Zusammenhang. Die Autorin skizziert den Aufbau der Arbeit, beschreibt die Quellenlage und erläutert die verwendete Methode der historischen Migrationsforschung, wobei sie deren theoretische Grundlagen nicht vernachlässigt.
Es ist ihr außerdem wichtig vorneweg zu betonen, dass sie sich von dem nach wie vor starken ethnischen und nationalstaatlichen Blick auf Migration lösen will. Als ein wichtiges Mittel dazu dient ihr der Vergleich, das heißt die Betrachtung von Wanderungen in verschiedenen Regionen. Mit ihrer These schließlich, dass der Migration ins Königreich Ungarn eine große Bedeutung zukam, stellt sich Fata gegen die ungarische Forschung. Sie betont, dass die Einwanderung sich nicht allein auf bestimmte Regionen, wie das Banat, beschränkte, sondern nach dem Willen des Herrschers, der Veränderungen der Agrarverfassung anvisierte, Auswirkungen auf die Sozial- und Gesellschaftsstruktur des gesamten Landes hatte.
Márta Fata unterteilt ihre Arbeit nach dem Einleitungskapitel in vier inhaltliche Abschnitte. Zunächst führt sie in die Wiederbevölkerung und die Landerschließung in Ungarn mit der Zurückdrängung der Osmanen ab 1689 bis 1771 ein und berücksichtigt dabei auch Bevölkerungsbewegungen in anderen habsburgischen Territorien seit dem 16. Jahrhundert. Ab dem Ende des 17. Jahrhunderts spielte noch vor der Ansiedlung deutscher Einwanderer die Immigration orthodoxer Raitzen aus dem Osmanischen Reich eine bedeutende Rolle. Wichtig für die Darstellung der im Mittelpunkt stehenden Zeitspanne ist die Erläuterung der bis dahin wirksamen mariatheresianischen Impopulationspolitik.
Ungewöhnlich, doch dem Thema durchaus angemessen, setzt die Hauptuntersuchung mit dem Jahr 1768 ein, dem Zeitpunkt der ersten Reise des Mitregenten Joseph durch das Banat, die Fata als Schlüsselerfahrung für die weitere Entwicklung ausmacht. Das Banat, dieser Landesstreifen, der als neue Provinz der Monarchie eingerichtet wurde, galt regelrecht als Laboratorium staatlicher Politik. Sehr anregend ist dabei die Herangehensweise der Autorin. Sie zeigt aus der Sicht des Regenten die einzelnen Schritte auf: zunächst das "erlernte", dann das "er-fahrene" Banat und schließlich die aus der Reise gewonnenen Erkenntnisse. Diese Aktivitäten, die formulierten Ziele und Vorhaben, flossen sozusagen in die Zeit der Alleinherrschaft Josephs II. nach 1780 ein: Herrschaftsverdichtung, intensivierte Kontrolle in drei Ländergruppen mit den drei Hauptstädten Wien, Prag und Ofen. Die Ansiedlungspolitik wird dabei in den Gesamtzusammenhang der Herrschaft Josephs II. eingebettet: Staatsgestaltung, Verwaltung, Toleranz-, Bauernschutzpolitik. In diesem Abschnitt zur Ansiedlung und den Agrarreformen wird der Blick geweitet auf die Ansiedlung in Galizien, in der Bukowina und anderen Teilen Ungarns. Auch wenn die Politik Wiens in einzelnen Regionen wie Galizien und Bukowina bereits untersucht wurde, erscheint die vergleichende Vorgehensweise Fatas notwendig und innovativ. Die Betrachtung des gesamten Prozesses der Siedlungsmigration in Galizien und Ungarn wird jeweils mit einer Einschätzung des Vorgangs durch die Zeitgenossen abgeschlossen. In einem weiteren großen Abschnitt werden die Kolonisten mit ihrem Selbst- und Heimatverständnis gerade unter dem sehr aktuellen Aspekt von Integration näher betrachtet, wobei Fata stets die ethnische und konfessionelle Vielfalt der Einwanderer herausstellt. In einem letzten Kapitel bündelt die Autorin gekonnt den Ertrag ihrer Untersuchung. Eine Bildergalerie unter anderem mit Abbildungen von Joseph II. sowie Plänen von Dörfern und Häusern runden das Buch ab.
Die eingangs gestellten Fragen und Thesen werden auf der Grundlage eines breiten Quellencorpus aus dem Wiener Haus-, Hof- und Staatsarchiv sowie aus Archiven in Budapest, Pécs, Stuttgart, Sigmaringen, Speyer, Berlin, Bratislava, Levoča und Novi Sad und einer sehr guten Literaturgrundlage bearbeitet. Umsichtig und reflektiert ist auch der Umgang mit Begriffen, zum Beispiel "Bevölkerung", "Impopulation", "Kolonisation", "Kolonist" bis hin zur Bezeichnung der einzelnen Bevölkerungsgruppen ("Deutsche", "Schwaben", "Raitzen", "Walachen").
Márta Fata hat eine insgesamt akribische, erkenntnisreiche und dichte, zugleich sehr leserfreundliche Studie vorgelegt.
Hans-Christian Maner