Pieter M. Judson: Habsburg. Geschichte eines Imperiums 1740-1918, 2. Auflage, München: C.H.Beck 2017, 667 S., 7 Kt., 40 s/w-Abb., ISBN 978-3-406-70653-0, EUR 34,00
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Joachim Wintzer: Deutschland und der Völkerbund 1918-1926, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2006
Christoph Kimmich: German Foreign Policy, 1918-1945. A Guide to Current Research and Resources, 3rd ed., Lanham, MD: Scarecrow Press 2013
Annette Schmidt-Klügmann: Bernhard Wilhelm von Bülow (1885-1936). Eine politische Biographie, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2020
Die frühere Meistererzählung über das Auseinanderbrechen der Habsburgermonarchie lautete etwa so: Wie die beiden anderen unzeitgemäßen Reiche im Osten bzw. Südosten Europas, wie das Russische und das Osmanische Reich, erlag Habsburg mit dem Ende des Ersten Weltkriegs der Nationalstaatsidee. Die Vorstellung vom "Völkerkerker" war zu dieser Zeit innerhalb des Reiches bereits über ein halbes Jahrhundert virulent gewesen und zunehmend mächtig geworden, und ungeachtet des Ausschlusses aus Deutschland und Italien, trotz des Ausgleichs mit Ungarn und der Umwandlung in eine Doppelmonarchie hatte sie nur mit Mühe unterdrückt werden können. Die Zeit vor dem Weltkrieg war also nur eine Gnadenfrist: Angesichts der Stärke der Nationalstaatsidee war das Reich dem Untergang geweiht. [1] Die Berechtigung seiner Existenz war der Schutz der verschiedenen Völker unter einem Dach vor Willkür und vor Expansion der Nachbarn gewesen. Aber einzig verbliebenes Symbol des Reiches war Franz Joseph; mit dem Tod des Kaisers und mit der Niederlage im Weltkrieg fiel beides weg, der Schutz vor Willkür und der Schutz vor den Nachbarn, und damit war der Weg frei für den letztlich absehbaren Zerfall in Nationalstaaten (Deutsch-Österreich, Tschechoslowakei, Ungarn) bzw. zum Zusammenschluss mit bestehenden oder entstehenden Staaten (Siebenbürgen zu Rumänen, Galizien zu Polen, Südtirol zu Italien, Kroatien und Slowenien zu Serbien und damit zu Jugoslawien).
Seit einiger Zeit wird diese große Erzählung in Zweifel gezogen und somit einer Revision ausgesetzt. Nach verschiedenen früheren Ansätzen anderer, insbesondere amerikanischer Historiker hat vor wenigen Jahren zunächst John Deak in einer Gesamtdarstellung der Reichsgeschichte seit dem 18. Jahrhundert ein anderes Bild entworfen [2], dem nun Pieter M. Judson mit seiner 2016 zunächst auf Englisch erschienenen "New History" (so der Untertitel der Originalausgabe) folgt und neuerdings in einem Teil der Argumentation auch Hannes Leidinger. [3] Wie Deak legt Judson, Professor am Europäischen Hochschulinstitut in Florenz, dafür eine stark auf die innere Entwicklung der Monarchie und ihrer Gesellschaft seit dem 18. Jahrhundert ausgerichtete Untersuchung vor.
Um es vorwegzunehmen: Das Buch und seine Thesen sind erfrischend wie in fast allen Fällen, wenn Meistererzählungen in Frage gestellt und die Forschenden in diesem konkreten Fall darauf hingewiesen werden, dass sie zu sehr in ihrer eigenen Gegenwart, nämlich der impliziten Affirmation des Nationalstaats, gefangen waren oder sind. Judson Erzählung ist eine andere: Er spannt dafür einen großen Bogen, wenn er nach einem kurzen Rückblick auf das Mittelalter und den Beginn der Neuzeit die Anstrengungen Maria Theresias und insbesondere ihre Sohnes, Josephs II., schildert, aus dem "zufälligen Reich" (so die Überschrift des ersten Hauptkapitels) durch Bemühungen um einheitliche Staatsverwaltung, um partielle Zurückdrängung des Adels, durch reichsweite Regelungen für den Schulunterricht auf den Weg hin zum Zentralstaat einzubiegen, der die formalrechtliche Gleichstellung aller Untertanen implizierte. Dies brachte vor allem und auch noch im 19. Jahrhundert Erfolge bei der ländlichen Bevölkerung, etwa bei den Bauern in Galizien (das von Judson immer wieder mit Belegen angeführt wird) und in anderen Kronländern, die über die Adelsschicht hinweg sich den Schutz des Reiches versprachen, um beispielsweise die Befreiung von ihren Lasten, etwa Arbeitsdiensten für die Landbesitzer, zu erlangen. So bildete sich denn auch, wie Judson mit vielen Beispielen belegt, zunächst ein Nationsbegriff aus, der sich eben (noch) nicht auf Nationalitäten im modernen Sinne bezog, sondern auf das Reich, und die Bindung an dieses Reich wurde durch die Napoleonischen Kriege eher verstärkt.
Wenn auch unter Franz II./I., unter Franz Ferdinand und vor allem durch Metternich der Weg hin zu Reformen vorübergehend verlassen wurde, wirkten doch quasi-objektive Dinge wie etwa die Verkehrserschließung und die zunehmende wirtschaftliche Vernetzung des Reiches in die andere Richtung. Ebenso dienten die egalisierende Wehrpflicht und auch die stark vermehrte Beamtenschaft, in der vor allem das Bürgertum seinen Platz fand, als integrierende Elemente. Dem widersprach aus Judsons Sicht auch nicht die Revolution von 1848: Etliche der ganz unterschiedlichen Revolutionen, die er ausmacht, dienten - vielleicht mit Ausnahme Ungarn und Italiens - nicht etwa der Abschaffung des Zentralstaats, sondern eher seiner "Wiederherstellung", wenn auch mit erweiterten Rechten des Bürgertums.
So überstand dieses Habsburgerreich denn auch das absolutistische Jahrzehnt, das den Revolutionen folgte, sowie die liberale Epoche, auch wenn mit der Auseinandersetzung über die verschiedenen Verfassungen eine gewisse Ethnisierung einherging, was insbesondere durch den Ausgleich von 1867 auf die ungarische Reichshälfte, selbst ein Konglomerat von Ethnien, zutraf. Kulturelle Auseinandersetzungen, die vor allem in Cisleithanien geführt wurden, interpretierten laut Judson die Liberalen als politische Konflikte, während die Nationalisten sich darum bemühten, die allgegenwärtigen Sprachenfragen zu nutzen, um das Kriterium der Sprache als vermeintlich eindeutigen Beleg der Existenz von Nationen zu definieren. Zwar arbeitete auch die offizielle Sprachenpolitik auf eine einheitliche Amtssprache hin, begünstigte aber ansonsten Vielsprachigkeit, wie überhaupt die Dynastie die Einheit pflegte mit dem Argument, die kulturelle Vielfalt im Reich sei dessen Stärke.
Mit dem Einzug der Moderne in die großen und kleinen Städte des Reiches gab es zwei weitere Entwicklungen, die aus Judsons Sicht die große Bedeutung des Gesamtreiches für seine Bürger ausmachten: Die Kommunen mit ihrer weitreichenden Autonomie wurden in Österreich wie in Ungarn Träger der alltäglichen Politik, wie sie dem Bürger begegnete - nicht etwa die "Nationen". Zum anderen entstanden überall in den Städten des Reiches ganz ähnliche Funktionsbauten: Wer in einer Stadt in die Eisenbahn stieg und in einer anderen und weit entfernten wieder aus, dem fiel diese reichsweite Architektur ins Auge.
Inzwischen hatten sich die Bürger daran gewöhnt, dass der Gesamtstaat und die Beamtenschaft vor Ort für ihre Daseinsvorsorge zuständig waren. Trotz aller Reformpläne fühlte sich die überwiegende Mehrzahl der Bewohner des Reiches eben als Bürger dieses Reiches - nicht als Mitglied einer ethnisch-sprachlich definierten Gemeinschaft, die notwendig zu einer Staatsnation strebte. Dies änderte sich, so Judsons Befund, radikal während des Ersten Weltkriegs: Die Erfahrungen mit den militärdiktaturähnlichen Bedingungen und damit, dass die Militärführung für die Anfangsniederlagen propagandistisch die Slawen im Reich verantwortlich machte, schließlich vor allem das Erleben, dass der Staat und seine Beamtenschaft nicht mehr für die allernotwendigsten Nahrungsmittel sorgen konnten, erschütterten das Vertrauen in die Wiener Politik wie in die Beamtenschaft vor Ort so nachhaltig, dass zu Ende des Krieges die nationalistischen Politiker ohne große Mühe und ohne größeres Blutvergießen unter wohlwollendem Zuschauen der Westmächte das Reich in Nationalstaaten zerlegen konnten - mit der Pointe, die für Judson darin liegt, dass auch die Nachfolgestaaten gewissermaßen Reiche im Kleinen mit jeweils mehreren Völkern waren, die sich in der Zwischenkriegszeit mit ihrer Minderheitenpolitik weit weniger tolerant erwiesen, als das Habsburgerreich es gewesen war. Gleichzeitig arbeiteten ihre Historiker eifrig an der Legende, dass Österreich-Ungarn vor 1918 eben der "Völkerkerker" gewesen sei.
Viele der von Judson angeführten Beispiele für die Reichsverbundenheit aus den verschiedensten Regionen der Monarchie stellen die genannte alte Erzählung tatsächlich massiv in Frage. Kritisch könnte man allerdings nicht nur darauf hinweisen, dass Judson bei den wenigen Einsprengseln, die sich auf Außenpolitik beziehen, eher nachlässig formuliert: Der Krimkrieg dauert bei ihm von 1853 bis 1855 (284), die österreichische Mobilmachung im Rahmen dieses Krieges findet für ihn 1853 statt (320; richtig: 1854); den deutsch-dänischen Krieg lässt er 1862 austragen (320-321); falsch ist auch die Abfolge der österreichischen Besetzung von Bosnien und der Herzegovina: Der Einmarsch fand eben nicht vor dem Berliner Kongress statt, um Aufstände niederzuschlagen, und wurde daher auch nicht erst nachträglich von diesem Kongress sanktioniert (421-422).
Grundlegender ist aber folgende Überlegung: Judson mag wohl recht haben, dass der Nationalismus, wie er ihn als einen, aber eher randständigen Aspekt etwa seit der Revolution von 1848/49 konzediert, in den allermeisten Teilen des Reiches ein Elitenprojekt war. Dass es ihn gab, ist allerdings kaum von der Hand zu weisen. Aber auch für die Folgezeit bis hin zum Ersten Weltkrieg baut er eine etwas eigenartige Dichotomie auf, wenn er hier die "Nationalisten" oder "nationalistischen Politiker" betrachtet, die man nach seiner Wortwahl eher als kleine Gruppe(n) verstehen muss, dort die reichsweite Bevölkerung. Dass es viele Fragen und Probleme gab, bei denen die große Mehrheit der Bewohner Österreichs bzw. später Österreich-Ungarns die Lösungen für politische und gesellschaftliche Fragen unabhängig von der "Nationalitätenfrage" sah, dürfte unbestreitbar sein. Auch die Bindung weiter Kreise der Bevölkerung an die gegebene Ordnung und speziell an das Reich und die Monarchie ist eine wichtige Korrektur des früheren Narrativs. Dass allerdings allein die Kriegserfahrung ausreichte, um 1918 den Zerfall schlagartig herbeizuführen, weil sie (so zumindest der Tenor bei Judson) den Nationalisten, nach seiner Beschreibung doch eher eine überschaubare Minderheit, in die Hände spielte und sie mit der Macht zur Zerlegung des Reiches in Nationalstaaten ausstattete, wirkt überzogen und stellt dem bisherigen einseitigen Narrativ ein ebenso einseitiges neues Narrativ gegenüber. Weitere Forschung sollte hier ansetzen und insbesondere auch nach quantitativen Aussagen suchen. Benedict Andersons Begriff von den Nationen als "imaginierten" Gemeinschaften [4] gehört inzwischen wohl zum Allgemeingut der Historiker und Historikerinnen. Dass aber auch Imaginationen wirkmächtig sein können, wenn sie nur ausreichend große Verbreitung finden, ist eine solch triviale Erkenntnis, dass man sie selbst bei der täglichen Zeitungslektüre bestätigt findet.
Anmerkungen:
[1] So etwa noch kürzlich explizit, vornehmlich unter außenpolitischer Perspektive: Konrad Canis: Die bedrängte Großmacht. Österreich-Ungarn und das europäische Mächtesystem 1866/67-1914, Paderborn 2016, 493.
[2] John Deak: Forging a Multinational State. State Making in Imperial Austria from the Enlightenment to the First World War (= Standford Studies on Central and Eastern Europe), Stanford 2015.
[3] Hannes Leidinger: Der Untergang der Habsburgermonarchie, Innsbruck 2017.
[4] Benedict Anderson: Imagined Communities. Reflections on the Origin and Spread of Nationalism, London 1983 [u.ö.]; in der etwas unglücklichen deutschen Übersetzung: Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines erfolgreichen Konzepts, Frankfurt am Main 1988 [u.ö.].
Wolfgang Elz