Malte Thießen (Hg.): Infiziertes Europa. Seuchen im langen 20. Jahrhundert (= Historische Zeitschrift. Beihefte. Neue Folge; Beiheft 64), Berlin: De Gruyter 2014, 219 S., ISBN 978-3-11-036434-7, EUR 74,95
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Seit dem Beginn der 2000er Jahre häufen sich die Nachrichten über Infektionskrankheiten, die vermeintlich eine Gefahr für die gesamte Menschheit darstellen. Der Ausbruch des SARS-Virus in Hongkong 2002/3 erregte global enorme Aufmerksamkeit, ebenso wie die seit rund zwanzig Jahren regelmäßig wiederkehrenden Berichte über die weltweite Verbreitung des Vogelgrippe-Virus. Eine akute Bedrohungswahrnehmung löste zumindest kurzzeitig auch die sogenannte Schweinegrippe-Pandemie der Jahre 2009/10 aus, und zuletzt beherrschte 2014 die Ebola-Epidemie in Westafrika für einige Wochen die Schlagzeilen.
Wohl auch deshalb sind Epidemien und Seuchen zuletzt stärker in den Fokus von Historikern und Historikerinnen getreten. Für das 20. Jahrhundert steht ihre Erforschung jenseits eines engen medizinhistorischen Blicks tatsächlich noch am Anfang. Hier stellt nun ein von Malte Thießen herausgegebener Sammelband eine wichtige Bestandsaufnahme dar, er formuliert neue Fragen und Probleme und zeigt vielversprechende Perspektiven auf. [1]
In seiner Einleitung fasst Thießen nicht nur in überzeugender Weise den Forschungsstand zusammen, er entwirft vor allem auch ein sehr vielfältiges und ambitioniertes Programm für eine Sozial- und Kulturgeschichte der Seuchen im 20. Jahrhundert. Seuchen gelten ihm als "Seismographen des Sozialen" (10): Sie eignen sich, so Thießen, in besonderer Weise, um als analytische Sonden Einblick in die Aushandlung von Normen und Ordnungsmustern zu geben, gesellschaftliche Spannungsverhältnisse anzuzeigen sowie Aussagen über das Verhältnis zwischen Individual- und Allgemeinwohl zu gewinnen.
Die Beiträge des Bandes vermessen dann in der Tat weite Teile des "langen 20. Jahrhunderts". Den Fokus auf die Zeit zwischen den Weltkriegen richten die Aufsätze von Malte König, Thomas Steller und Matthias Braun. König vergleicht den Umgang mit Syphilis in Deutschland und Frankreich zwischen 1880 und 1940. In beiden Ländern führte die tendenzielle "Entmoralisierung" (52) der Krankheit dazu, dass sich die Problemwahrnehmung verschärfte, schien die Krankheit doch nun potenziell die gesamte Bevölkerung zu betreffen. Gerade unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg spielte Syphilis in rassenhygienischen Überlegungen eine wichtige Rolle, sie verband sich aber in Frankreich viel stärker als in der Weimarer Republik mit der Angst vor einer "Entvölkerung" (62). Mit den zwanziger Jahren beschäftigt sich auch Steller, der in seiner Untersuchung von Ausstellungen zu Geschlechtskrankheiten in wissensgeschichtlicher Perspektive die Strategien der Popularisierung von Seuchenwissen und Praktiken der Wissensvermittlung analysiert. Schließlich vergleicht Braun die Initiativen der dreißiger Jahre gegen Malaria in Italien, dem Süden der USA und den zentralasiatischen Republiken der Sowjetunion. Während die autoritären Regime, so die These Brauns, auf dem Wege der Krankheitsbekämpfung Mensch und Gesellschaft zu formen versuchten, liefen die Strategien in den Vereinigten Staaten eher darauf hinaus, eine "verseuchte" Umwelt umzugestalten (92).
Zwei diachrone Längsschnitte, von Wilfried Witte und Bettina Hitzer, spannen den Bogen vom Beginn beziehungsweise der Mitte des 20. Jahrhunderts bis in unsere Gegenwart. Witte spürt den Deutungen der "Spanischen Grippe" nach. Auf diese Weise gelingt es ihm, Konjunkturen in der gesellschaftlichen Wahrnehmung der Grippe nachzuzeichnen. Damit setzt sich auch Hitzer auseinander: In emotionengeschichtlicher Perspektive vergleicht sie die Entwicklung von Krankheitsängsten in der Bunderepublik am Beispiel von Grippe und Krebs. Gerade die vehementen Verschiebungen im Umgang mit der emotionalen Erfahrung einer Krebserkrankung - von der Pathologisierung von Ängsten in den Fünfzigern bis zur Fokussierung auf die psychische Beratung von Patienten seit den achtziger Jahren - zeigen dabei eindrücklich die Potenziale eines solchen Zugriffs auf.
Mit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und vor allem der jüngsten Zeitgeschichte beschäftigen sich auch Ulrike Lindner und Hennig Tümmers. Lindner zeigt am Beispiel des Umgangs mit Polio in den fünfziger und sechziger beziehungsweise AIDS in den achtziger Jahren, wie sich die politischen Reaktionen auf Infektionskrankheiten nur im Zusammenspiel zwischen internationaler Politik, transnationalen Verbindungen und jeweils national und regional organisierten Gesundheitssystemen verstehen lassen. Tümmers wiederum vergleicht die Reaktionen auf HIV/AIDS in der Bundesrepublik und der DDR. Während die ostdeutschen Autoritäten zwar lange öffentlich daran festhielten, die Krankheit betreffe die DDR überhaupt nicht, orientierte sich die Gesundheitspolitik in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre dennoch verstärkt an den bundesdeutschen Diskussionen, wo sich eine auf Aufklärung und Prävention fokussierte Politik durchsetzte.
Gerahmt werden diese Einzelstudien von den Überlegungen Jörg Vögeles und Axel Schildts. Vögele diskutiert die Frage, welchen Einfluss medizinische Eingriffe überhaupt auf Sterblichkeit und Lebenserwartung in modernen Gesellschaften hatten, und lenkt dabei den Blick auf das in der medizinhistorischen Forschung enorm einflussreiche Konzept des epidemiologischen Übergangs. Letzteres sei allein mit Bezug auf die Situation in West- und Nordeuropa bis etwa 1970 entwickelt worden, und Vögele plädiert insofern für eine räumliche wie zeitliche Erweiterung. Beschlossen wird der Band von Schildts Überlegungen zum Ort der Seuchengeschichte in der zeithistorischen Forschung.
Insgesamt steht die Phase zwischen 1945 und 1970 gegenüber dem ersten und letzten Drittel des 20. Jahrhunderts etwas zurück. Dadurch spielen die gesundheitspolitischen Weichenstellungen dieser Dekaden, etwa die Einführung von Medikamenten und Chemikalien wie Penizillin oder DDT, die zeitgenössisch als "Wundermittel" wahrgenommen wurden, kaum eine Rolle. Die globalen Bezüge einer europäischen Seuchengeschichte, auf die Malte Thießen in seiner Einleitung hinweist, scheinen nur in manchen Beiträgen auf; häufiger dominiert der Fokus auf Deutschland.
Zweifellos bietet der Band ein breites Panorama an möglichen Zugangsweisen zur Geschichte von Epidemien - das ist methodisch durchweg anregend und hier liegt die größte Stärke. Diese bewusst explorative Anlage der Beiträge, die allesamt Thießens Überlegung von der Sondenfunktion der Seuchen aufnehmen, macht aber auch deutlich, wie sehr eine solche Herangehensweise noch am Anfang steht. Denn so einleuchtend die Vorstellung von der analytischen Sonde ist, wird doch nicht immer klar, inwiefern sich so Vorschläge für ein neues Verständnis bestimmter Phasen und Aspekte formulieren oder sich doch vor allem bestehende Deutungsangebote bestätigen lassen. Auch beinhaltet der Verweis auf die Sondenfunktion in der Regel noch keine Aussage über die relative Bedeutung der behandelten Phänomene: Welche Rolle spielte die Angst vor Syphilis etwa im Bevölkerungsdiskurs der Zwischenkriegszeit? Welchen Ort haben die teils apokalyptischen Ängste, die von AIDS ausgelöst wurden, im Verständnis der achtziger Jahre?
Insofern erweist es sich vermutlich als die entscheidende Herausforderung auszuleuchten, worin genau das spezifische Gewicht der Geschichte von Seuchen und Epidemien in der Gesellschaftsgeschichte des 20. Jahrhunderts besteht. Dass der Band es schafft, diese und andere wichtige Fragen aufzuwerfen, ist sein großes Verdienst. Das Potenzial, wichtige und neue Angebote zum Verständnis des 20. Jahrhunderts zu formulieren, hat eine solche Seuchengeschichte in jedem Falle.
Anmerkung:
[1] Vgl. den Bericht von Britta-Marie Schenk über die Tagung, aus welcher der Band hervorgegangen ist, in: H-Soz-Kult, 24.04.2012, http://www.hsozkult.de/conferencereport/id/tagungsberichte-4205
Thomas Zimmer