Rezension über:

Natalie Mears / Alec Ryrie (eds.): Worship and the Parish Church in Early Modern Britain (= St Andrews Studies in Reformation History), Aldershot: Ashgate 2013, XII + 250 S., ISBN 978-1-409-42604-2, GBP 65,00
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Rezension von:
Philip Hahn
Historisches Seminar, Eberhard Karls Universität, Tübingen
Redaktionelle Betreuung:
Johannes Wischmeyer
Empfohlene Zitierweise:
Philip Hahn: Rezension von: Natalie Mears / Alec Ryrie (eds.): Worship and the Parish Church in Early Modern Britain, Aldershot: Ashgate 2013, in: sehepunkte 15 (2015), Nr. 10 [15.10.2015], URL: https://www.sehepunkte.de
/2015/10/23424.html


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Natalie Mears / Alec Ryrie (eds.): Worship and the Parish Church in Early Modern Britain

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Der Titel dieses interdisziplinär aufgestellten Sammelbandes ist zunächst erklärungsbedürftig: Die Beiträger, Historikerinnen und Historiker, Theologeninnen und Theologen und Kirchenhistorikerinnen und Kirchenhistoriker sowie ein Literaturwissenschaftler, befassen sich mit unterschiedlichen Aspekten liturgischen Handelns. Der Kirchenraum selbst bzw. seine Herstellung als Handlungsraum wird in den meisten Beiträgen nicht explizit thematisiert; das "and" im Titel ist also etwas irreführend. Geografisch dominiert das frühneuzeitliche England, während Wales, Schottland und Irland nur gelegentlich Erwähnung finden. [1] Der betrachtete Zeitraum umfasst etwa 130 Jahre, vom Beginn der englischen Reformation bis zum Ende des Bürgerkriegs 1660.

Die Stärke des Bandes liegt darin, dass er die Aufmerksamkeit auf Aspekte (protestantischer) britischer Frömmigkeitsgeschichte lenkt, die in der Forschung lange zu kurz gekommen sind: Statt um Predigten geht es hier vorrangig um Gebete, Musik und Gesten; statt um die Unzufriedenheit von Randgruppen um die allsonntägliche Erfahrung unauffälliger Gottesdienstbesucher.

Eine wichtige inhaltliche Klammer des Bandes stellt das Book of Common Prayer (BCP) dar. Hannah Cleugh weist in ihrem Beitrag auf die Widersprüche zwischen der von der englischen Kirche seit Eduard VI. übernommenen reformierten Theologie und dem BCP hin, die insbesondere in dessen pastoral motivierten, vorsichtigen Äußerungen zur Prädestinationslehre sowie den Liturgien für Taufe und Beerdigung zutage treten. Die religiösen Vorstellungen der Mehrzahl der Menschen, maßgeblich durch die oft wiederholten Gebete des BCP geprägt, entsprachen also wohl kaum der offiziellen reformierten Theologie der englischen Kirche. Zwei weitere Aufsätze stellen allerdings die gemeinhin angenommene Dominanz des BCP als liturgisches 'Flaggschiff' in Frage. Natalie Mears stellt auf der Basis einer Analyse sämtlicher staatlich angeordneter Sonderliturgien zu besonderen Anlässen wie Kriegen oder Seuchenausbrüchen von 1535 bis 1642 fest, dass die allsonntägliche liturgische Routine durch solche Buß- oder Dankgottesdienste in zunehmendem Maße unterbrochen wurde. Meist werden diese lediglich als politische Propagandainstrumente interpretiert, doch stellten sie in liturgischer Hinsicht auch eine Art staatlich geförderter Nonkonformität dar. Judith Maltby analysiert in ihrem den Band abschließenden Aufsatz, was passierte, als das BCP während der Bürgerkriegsjahre durch ein Gebetbuch ersetzt wurde, das kaum mehr vorgefertigte Gebetsformulierungen, sondern fast nur noch Regieanweisungen enthielt. Die meisten Geistlichen waren damit überfordert, und auch auf Seiten der Gemeinden entstand Unsicherheit und das Bedürfnis nach vertrauten Gebetstexten. Binnen Kürze waren daher Notbehelfe auf dem Markt, die wesentlich vom alten BCP geprägt waren. Beides - die Sonderliturgien ebenso wie der Zwang zur Kreativität der Geistlichen im Interregnum - bot aber wichtigen Spielraum für liturgische Experimente auf allen Ebenen der Kirche, die schließlich in die Erneuerung des BCP nach der Restauration 1660 mündeten.

Zwei weitere Schwerpunktthemen des Bandes sind die Bedeutung des Körpers und der Musik in der postreformatorischen Liturgie. Alec Ryrie zeichnet den Bedeutungswandel des Fastens im frühneuzeitlichen England nach. Trug der demonstrative Bruch mit den traditionellen Fastenbräuchen anfangs nicht wenig zur Popularität der Reformation bei, so verschwand das Fasten dennoch nicht aus der protestantischen Frömmigkeit in England und Schottland. Dies lag, so Ryrie, vor allem daran, dass es in seiner Abstinenz von einer Aktivität ein perfektes protestantisches Ritual darstellte. Aus protestantischer Perspektive problematisch war vor allem das vom Kalender vorgeschriebene Fasten, während spontanes Fasten in zunehmendem Maße von Theologen begrüßt wurde. Neben dem traditionellen Verzicht auf Fleisch, der auch aus fischereiwirtschaftlichen Überlegungen beibehalten wurde, stellte der stundenlange Predigtmarathon zu besonderen Anlässen eine neuartige Form des Fastens dar. Grundsätzlich blieb das Fasten auch im Verlauf des 17. Jahrhunderts eine von allen Gruppen der sich ausdifferenzierenden englischen Kirche geteilte Erfahrung; Abgrenzungen wurden über die genaue Art und den Anlass des Fastens markiert.

Die auch nach der Reformation noch große Bedeutung körperlicher Gesten im Gottesdienst betont John Craig in seinem Beitrag über "Bodies at Prayer". Während der Regierungszeit Elisabeths (1558-1603) lasse sich eine Steigerung der Erwartungen an die Gemeinde vom bloßen Zuhören hin zum aktiven Mitbeten entsprechend dem BCP beobachten. Dabei entwickelten sich unterschiedliche Praktiken des Körpereinsatzes. Lautes Seufzen und Stöhnen sowie das Aufschauen zum Himmel beim Beten wurde vor allem unter Puritanern zum Zeichen inbrünstigen Gebets; im Lauf des 17. Jahrhunderts verbreitete sich dann die Praxis, die Augen zu verschließen - eine später klassisch gewordene anglikanische Gebetsgeste, die jedoch zunächst ambivalent war, da sie auch als Abgrenzung vom Gottesdienstgeschehen oder gar Schlaf interpretiert werden konnte. Besonders bemerkenswert ist der Wandel des Huttragens im Gottesdienst um 1600 von der elisabethanischen Hutpflicht hin zum Ziehen des Huts unter Jakob I., wobei sich die Praktiken in Schottland und England unterschiedlich entwickelten.

Innerhalb der drei der Musik gewidmeten Beiträge dominieren theologische bzw. normative Aspekte, während die eigentliche Musikpraxis nicht etwa durch das reformierte Psalmensingen, sondern durch ein Randphänomen vertreten ist. Das Glockenläuten, durch die Reformation seiner liturgischen Funktion beraubt, entwickelte sich in nachreformatorischer Zeit zu einer beliebten Freizeitaktivität junger Männer. Dennoch, so argumentiert Christopher Marsh, war es keineswegs eine rein säkulare Angelegenheit: Die Teilnahme am Läuten integrierte junge Männer in die Kirchengemeinde und diente auch der Einübung kollektiver Verhaltensnormen im Kirchenraum. Es füllte somit eine Leerstelle, die durch die Abschaffung der Gemeindebiere und Gilden während der Reformation entstanden war.

Die Beiträge von Jonathan Willis und Peter McCullough wenden sich der Sichtweise protestantischer Theologen auf die Kirchenmusik zu. Willis betont, dass die englische Theologie der Nachreformationszeit nicht generell als musikfeindlich charakterisiert werden könne. Man sei sich nicht nur der Gefahren, sondern auch des positiven Effekts von Musik auf die Gottesdienstteilnehmer sehr wohl bewusst gewesen; Uneinigkeit bestand jedoch dahingehend, welche Art von Musik für den Gottesdienst als geeignet angesehen wurde. McCullough zufolge lasse sich in den ersten Jahrzehnten des 17. Jahrhunderts sogar eine wachsende Bedeutung der Kirchenmusik erkennen: Ausgaben für Musiker stiegen, besondere Festtage (siehe den Beitrag von Mears) boten Gelegenheit zu musikalischer Ausschmückung, und manche Geistliche werteten Musik nicht mehr als Gegensatz zur Predigt, sondern sogar als komplementär.

Dass sie sich dabei auch explizit auf lutherische Positionen zur Kirchenmusik bezogen, ist ein Hinweis darauf, dass es sich lohnen würde, Liturgiegeschichte in Zukunft stärker über den Tellerrand nationaler Forschungstraditionen hinweg zu beleuchten. Mehrere Beiträge des Bandes arbeiten sich nämlich an der traditionellen Interpretation ab, dass die Liturgiereformen des Erzbischofs unter Karl I., William Laud, mit ihrer Hinwendung zu mehr Ausschmückung und stärkerer Formalisierung des Gottesdiensts, im Wesentlichen von oben aufoktroyiert und unpopulär gewesen seien. Trevor Coopers Fallstudie über eine maßgeblich von einer Familie neugestaltete und genutzte Pfarrkirche zeigt, dass der "ceremonial revival" (9) auch von unten kam, und die von Craig analysierten Gebetspraktiken zeigen, dass der Gottesdienst schon lange vor Laud Schauplatz von Auseinandersetzungen über Zeremonien war. Zwischen den Anhängern Lauds und seinen puritanischen Gegnern lag ein weites und vielgestaltiges Feld liturgischer Praxis, das durchaus Parallelen zum zeitgenössischen Luthertum aufweist.

Craigs Ausführungen über den Wandel des Umgangs mit Hüten in der Kirche in den Jahrzehnten vor und nach 1600 ebenso wie die von Ryrie analysierten Fastenbräuche deuten außerdem darauf hin, dass Andachtsformen nicht nur von religiös-theologischen Parametern beeinflusst waren, sondern auch von wirtschaftlichen Faktoren, sich wandelnden Formen sozialer Differenzmarkierung, Mode usw. Die Geschichte der Liturgie in Zukunft stärker im Kontext dieser komplexen Zusammenhänge zu interpretieren ist ein weiterer Anstoß, den man von der Lektüre dieses durchweg anregenden und gut lesbaren Sammelbandes mitnimmt.


Anmerkung:

[1] Vgl. die Rezension von John McCallum in: H-Albion, H-Net Reviews, November 2013, http://www.h-net.org/reviews/showrev.php?id=38279.

Philip Hahn