Christoph Schumann (ed.): Nationalism and Liberal Thought in the Arab East. Ideology and practice (= Routledge Studies on the Middle East; 10), London / New York: Routledge 2010, X + 198 S., ISBN 978-0-415-55410-7, GBP 80,00
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Aufbauend auf den Beiträgen einer 2005 in Erlangen veranstalteten Konferenz zu den Wurzeln liberalen Gedankenguts im östlichen Mittelmeerraum legt dieser aktuellere von zwei Sammelbänden den Schwerpunkt - anders als sein 2008 erschienener Vorgänger "Liberal Thought in the Eastern Mediterranean" - auf die Beziehung zwischen Nationalismus und liberalem Denken. Behandelt werden Einzelfallbeispiele aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts der arabischen Welt, wobei der erste Teil des Buches vorrangig nationalistisches, der zweite liberales Gedankengut erörtert. Dabei sprechen sich die Autoren, wie wir im Folgenden sehen werden, gegen eine klare Trennung beider Bereiche aus.
Gemeinsame Grundannahme aller neun Artikel ist ein offenes heuristisches Konzept "liberalen Denkens" ("Liberal Thought") und damit die Abkehr von einer verengten Vorstellung von Liberalismus. Das Verständnis von konzeptionellen Begriffen als konstante Weltsicht verhindert nach Meinung der Autoren bisher eine umfassende und tiefergehende Untersuchung liberaler Phänomene und Entwicklungen in der arabischen Welt. In seinem Beitrag fasst der Herausgeber Christoph Schumann das zentrale Anliegen des Bandes noch einmal zusammen, indem er fordert, die vorgebliche Widerspruchsfreiheit der betreffenden Diskurse zu hinterfragen. Liberale Standpunkte und Argumentationsweisen in verschiedenen Debatten sollen so sichtbar gemacht und Veränderungen in politischen Diskursen sowie die Unterschiede und Überschneidungen zwischen ihnen nachvollziehbar werden. Ohne dass sie in einem abgeschlossenen liberalen Konzept verhaftet sein müssen, werden einzelne Stränge liberalen Gedankenguts so ersichtlich. Nationalismus und liberales Denken wären damit nicht mehr als kategorisch unvereinbare Gegensätze zu verstehen. Gezeigt werden kann auf diese Weise, wie der Band belegt, dass Schlüsselforderungen des Liberalismus wie individuelle Rechte, Konstitutionalismus oder öffentliche Partizipation auch für arabische Nationalisten des 20. Jahrhunderts bedeutend waren, während andere Themen kontroverser verhandelt wurden.
Durch verschiedene Beiträge zieht sich außerdem der Verweis auf das grundlegende Werk "Arabic Thought in the Liberal Age, 1789-1939" von Albert Hourani (1915-1993). Trotz einiger Kritik, die sich besonders auf die an Europa orientierte zeitliche Eingrenzung bezieht, begründet der Band bis heute die Idee von einem liberalen Zeitalter in der arabischen Welt. Die damit implizierte und in der nachfolgenden Forschung oft übernommene Annahme vom Ende liberaler Entwicklungen arabischen Gedankenguts lehnt Schuman ebenso ab wie die Kontrastierung von auf einem geschlossenen Corpus von Ideen beruhenden Ideologien als Untersuchungskategorien. Houranis Werk habe gezeigt, dass sich besonders im Falle des Liberalismus die vielen bedeutsamen Grundideen weder hierarchisieren, noch vereinheitlichen ließen und dass die Vielfalt der liberalen Gedanken und Forderungen nur am Einzelfall erforschbar sei. Die im Band vorgestellten Intellektuellen sind damit auch nicht als "Liberale" im engeren Sinn zu beschreiben, sie selbst verstanden sich als Nationalisten, Sozialisten oder islamische Reformer.
Die Artikel eröffnen nun jeweils konkrete Perspektiven auf die Entwicklung liberalen Gedankenguts in der arabischen Welt. Die Fallbeispiele lassen sich überwiegend im heutigen Irak, Syrien und Ägypten verorten und analysieren sowohl die Standpunkte einzelner Intellektueller durch die Analyse von Artikeln, Reden oder - teils literarischen - Werken, als auch die Haltung beispielsweise von Zeitschriften und Debattierclubs in ihrer Funktion für die öffentliche Meinungsbildung sowie die Entwicklung von Parteiprogrammen in ihrem jeweiligen historischen Kontext. Dabei gelingt es den Autoren nachzuweisen, dass und wie uneinheitliche Positionen selbst innerhalb verschiedener Institutionen verhandelt wurden. Auf diese Weise lassen sich, wie beispielsweise der Artikel von Peter Wien zeigt, liberalere Meinungen inmitten eines nationalistischen Diskurses belegen. Anhand der Bildungsdebatte im irakischen Debattierklub Muthannā zeigt Wien unter dem Dach eines quasi autoritären Staatsverständnisses dabei liberale, pro-individualistische Züge auf.
An wenigen Stellen verlieren die Artikel zur Ausbildung von Standpunkten innerhalb größerer Netzwerke in ihrem Detailreichtum kurzzeitig an Übersichtlichkeit, was aber ihrem Charakter als Einzelfallbeschreibungen geschuldet sein mag und den positiven Leseeindruck nicht nachhaltig trübt. Die besondere Stärke des Buches sind indessen jene Beiträge, die sich mit dem Gedankengut einzelner Intellektueller und deren Werdegängen befassen. Im Rahmen der gegebenen Möglichkeiten sind sehr eingehende Analysen entstanden, in denen die Vermischung nationalistischer und liberaler Argumente deutlich wird. Spannend sind auch die unterschiedlichen methodischen Ansätze, von begriffsgeschichtlichem Arbeiten wie bei Thomas Philipp, dem es gelingt, in den Debatten um die Auseinandersetzung mit europäischem Gedankengut in drei ägyptischen Magazinen eine sehr unterschiedliche Entwicklung von Fortschrittskonzeptionen nachzuweisen, bis zur Analyse von narrativen Strategien arabischer Widerstandsliteratur wie bei Orit Bashkin.
Ein Aspekt, der dabei in den meisten Artikeln deutlich wird, ist der ambivalente Standpunkt vieler Intellektueller, der besonders im Rahmen der Auseinandersetzung mit der westlichen Moderne und ihren Errungenschaften zur Sprache kommt. Beispielhaft kann hier der Beitrag von Alexander Flores genannt werden, der in den Schriften des Syrers Farah Antun (1874-1922) die positive Bewertung der westlichen Moderne aus kultureller Sicht und gleichzeitig die negative Positionierung gegenüber dem Kolonialismus analysiert. Dabei ist das Thema der Übernahme und kulturellen Aneignung westlicher Ideen unter Beibehaltung der eigenen Identität bis heute in arabischen Debatten ein aktuelles Thema.
In Zeiten, in denen sich das öffentliche Interesse aber auch der wissenschaftliche Fokus oftmals auf die durch grobe Vereinfachung deutlicher abzugrenzenden Ideologien des arabischen Nationalismus und des Islamismus richtet, gelingt es den Autoren dieses Bandes, Zwischentöne offenzulegen, die bei einer Herangehensweise mit geschlossenen Konzepten vernachlässigt werden. Grade weil hier nicht der Versuch unternommen wird, ein Gesamtbild vorzustellen, zeigen die kleinteiligen Darstellungen von einzelnen Entwicklungsschritten und Schwerpunkten, dass sich mit einem offenen heuristischen Konzept in der arabischen Welt eine Tradition liberalen Denkens nachverfolgen lässt.
Verena Ricken