Rezension über:

Sergej Z. Sluč / Carola Tischler (Hgg.): Deutschland und die Sowjetunion 1933-1941. Dokumente aus russischen und deutschen Archiven. Band 1: 30. Januar 1933 - 31. Dezember 1934, München: Oldenbourg 2014, 2 Bde., XV + 1552 S., ISBN 978-3-486-71295-7, EUR 198,00
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Rezension von:
Stefan Creuzberger
Universität Rostock
Empfohlene Zitierweise:
Stefan Creuzberger: Rezension von: Sergej Z. Sluč / Carola Tischler (Hgg.): Deutschland und die Sowjetunion 1933-1941. Dokumente aus russischen und deutschen Archiven. Band 1: 30. Januar 1933 - 31. Dezember 1934, München: Oldenbourg 2014, in: sehepunkte 15 (2015), Nr. 11 [15.11.2015], URL: https://www.sehepunkte.de
/2015/11/24959.html


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Sergej Z. Sluč / Carola Tischler (Hgg.): Deutschland und die Sowjetunion 1933-1941

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In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts sind es die deutsch-sowjetischen Beziehungen, die für die Entwicklung Europas eine zerstörerische Dynamik entfaltet haben. Mit Adolf Hitlers nationalsozialistischer "Machtergreifung" wurde in Deutschland eine totalitäre Diktatur etabliert. Sie zeichnete sich nicht nur durch eine antibolschewistische, rassenideologische Hassrhetorik, sondern ebenso durch eine konsequente, vornehmlich auf "Lebensraum im Osten" zielende Aggressionspolitik gegen die stalinistische UdSSR aus. Im September 1939 blieb die Sowjetunion zunächst noch von der NS-Kriegspolitik verschont. Der im August zwischen den beiden Diktatoren abgeschlossene Hitler-Stalin-Pakt gewährte den Machthabern im Kreml zweifellos noch eine Atempause. Zugleich leitete er aber eine vorübergehende unrühmliche Partnerschaft ein. Diese erlaubte es NS-Deutschland, zunächst Polen und Westeuropa mit Krieg zu überziehen sowie weite Teile Ostmitteleuropas zwischen den beiden machthungrigen totalitären Regimen aufzuteilen. Die unnatürliche Allianz endete jäh am 22. Juni 1941 mit dem deutschen Überfall auf die UdSSR: Beide Seiten führten von da an einen schonungslosen weltanschaulichen Vernichtungskrieg, der weite Teile Osteuropas in "Bloodlands" (Timothy Snyder) verwandelte; am Ende lag ein ganzer Kontinent in Trümmern.

In diesem historischem Umfeld ist nunmehr ein - um es vorwegzunehmen - äußerst begrüßenswertes neues Editionsvorhaben zu verorten. Im Auftrag der gemeinsamen Kommission für die Erforschung der jüngeren Geschichte der deutsch-russischen Beziehungen haben mit Sergej Slutsch und Carola Tischler profunde Kenner der deutsch-sowjetischen Beziehungsgeschichte während des Nationalsozialismus den ersten Teil einer vierbändigen Dokumentenpublikation herausgegeben. Das Gesamtprojekt erstreckt sich auf die Phase zwischen dem 30. Januar 1933 und dem 22. Juni 1941. Es reicht weit über das hinaus, was bisherige einschlägige Editionen zu bieten haben. Die in den 1970er-Jahren veröffentlichte Serie C der "Akten zur deutschen Auswärtigen Politik", die ebenfalls diesen Zeitraum abdeckt, gewährt im Rahmen der allgemeinen Außenpolitik immer nur Teileinblicke in das bilaterale Geschehen, und das zumeist aus einer amtlichen deutschen Perspektive. Für die in Sowjetzeit initiierte Gegenedition, die "Dokumenty vnešnej politiki SSSR" (Dokumente der Außenpolitik der UdSSR), stellt sich zudem ein besonderes quellenkritisches Problem: Abgesehen davon, dass man die zur Veröffentlichung vorgesehenen Dokumente allein nach seinerzeit gültigen politisch-ideologischen Kriterien auswählte, wurden Auslassungen inopportuner Textpassagen in der Regel nicht kenntlich gemacht.

All diese Mängel behebt der nun von Sergej Slutsch und Carola Tischler vorgelegte erste Teilband: Er vereint 565 sowjetische und deutsche Dokumente. Drei Viertel dieser Materialien sind erstmals publiziert, stammen aus insgesamt neun Archiven in Russland und Deutschland, wurden vorzüglich übersetzt, äußerst sorgfältig kommentiert und vereinzelt mit einschlägigen veröffentlichten Unterlagen aus dem russischen Präsidentenarchiv ergänzt. In dieser gelungenen Zusammenstellung verstehen es die Herausgeber, die besondere Ambivalenz aufzuzeigen, die das bilaterale deutsch-sowjetische Verhältnis gerade während der ersten beiden Jahre nach der nationalsozialistischen "Machtergreifung" nachhaltig geprägt hat. Erstmals ist es nicht nur möglich, die Interaktion von deutschen und sowjetischen Akteuren, sondern auch deren jeweilige Perzeption des Anderen besser zu verstehen. Die außenpolitischen Protagonisten erhalten damit klarere Konturen, werden in der Art ihres Denkens, in ihrer politischen Mentalität, aber auch in ihrer Einbindung in politisch-institutionelle Entscheidungs- und Kommunikationsprozesse wesentlich nachvollziehbarer als bisher.

Bei der Auswahl ihrer Materialien haben sich die Herausgeber nicht allein von Fragen der großen Politik- und Diplomatie-Geschichte leiten lassen. Sie widmen sich auch den immensen wirtschaftlichen Herausforderungen der Zeit, thematisieren militärische Aspekte und dokumentieren nicht zuletzt die Folgen der NS-Machteroberung für die damalige kulturelle Zusammenarbeit. Damit geben sie anregende Impulse für eine erweiterte deutsch-sowjetische Beziehungsgeschichte und machen einmal mehr deutlich, dass auf diesem Gebiet noch manches zu bearbeiten ist.

Welche Einsichten lassen sich darüber hinaus aus den vorliegenden Dokumenten gewinnen? Zu den politischen Schlüsselfragen, die insbesondere die sowjetische Seite maßgeblich bewegten, gehörte zweifellos das tiefe Bedürfnis zu ergründen, wie es um die Beständigkeit des neuen Regimes in Deutschland stand. Die Leitung des Außenministeriums verlegte sich dabei von Anfang an auf Kooperation mit der Regierung Hitler. Sie übte sich trotz zahlreicher antisowjetischer Übergriffe und Ausschreitungen, die sich gegen sowjetische Diplomaten oder Handelsvertreter in Deutschland, aber auch gegen gemeinsame Wirtschaftsunternehmen wie die Deutsch-Russische Naphta-Importgesellschaft mbH (Derunapht) richteten, insgesamt in bemerkenswerter Zurückhaltung. Selbst die im Übereifer der NS-"Machtergreifung" provozierten Konflikte - wie das Hugenberg-Memorandum oder die Nichtzulassung sowjetischer Journalisten zum Leipziger Reichstagsbrand-Prozess - änderten daran wenig. Insbesondere Stalin plädierte nachdrücklich für die Aufrechterhaltung intakter Beziehungen zur neuen Reichsregierung. Umso bemerkenswerter ist es daher, wenn es auf der Abteilungsleiter-Ebene im sowjetischen Außenministerium Vertreter gab, die von dieser Auffassung abwichen und zeitweilig für eine härtere Gangart gegenüber dem Deutschen Reich votierten.

Mit Blick auf die bilateralen Militärbeziehungen belegt der Dokumentenband eindrücklich, dass die sowjetische Führung - ungeachtet der Verschlechterung des allgemeinen politischen Klimas zwischen Berlin und Moskau - im Frühjahr 1933 noch keinesfalls danach strebte, diese abzubrechen. Überhaupt war dort die Hoffnung sehr groß, in der Reichswehrführung einen sowjetischen Interessenanwalt zu sehen, der entsprechend Einfluss auf Hitler und sein engeres Umfeld ausüben würde. Darüber hinaus ist ein Befund überaus bemerkenswert: Der Grad an Verunsicherung über die Veränderung und die damit einhergehenden vagen Zukunftsaussichten für das bilaterale Verhältnis waren keineswegs nur auf Seiten der UdSSR besonders ausgeprägt. Solange die nationalsozialistische "Machtergreifung" noch nicht abgesichert war und das Regime zeitweilig in eine außenpolitische Isolation zu geraten drohte, ergriffen auch die deutsche politische Führung Zweifel, inwieweit Moskau - angesichts verschiedener Annäherungsversuche an Frankreich - im Sinne vorangegangener Jahre ein zuverlässiger Kooperationspartner bleiben würde.

Mit ihrem Editionsprojekt haben die Herausgeber unter Beweis gestellt, dass es sich lohnt, sich wieder verstärkt der deutsch-sowjetischen Beziehungsgeschichte der 1930er-Jahre zuzuwenden. Nicht zuletzt deshalb ist zu hoffen, dass ihr weiteres Vorhaben mit derselben Akribie zielstrebig vorangetrieben wird und die angekündigten Folgebände nicht lange auf sich warten lassen.

Stefan Creuzberger