Sebastian Voigt / Heinz Sünker (Hgg.): Arbeiterbewegung - Nation - Globalisierung. Bestandsaufnahmen einer alten Debatte, Weilerswist: Velbrück 2014, 231 S., ISBN 978-3-942393-71-3, EUR 24,95
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In ihrer Artikelserie Nationalitätenfrage und Autonomie schrieb Rosa Luxemburg sechs Jahre vor dem Ersten Weltkrieg, die Sozialdemokratie sei "nicht zur Verwirklichung eines Selbstbestimmungsrecht der Nationen berufen, sondern des Selbstbestimmungsrecht der arbeitenden Klasse, der ausgebeuteten und unterdrückten Klasse - des Proletariats". (1) Ihre Position blieb innerhalb der ArbeiterInnenbewegung eine Minderheitenposition. Auch die Bolschewiki kritisierte Luxemburg nach der russischen Revolution für ihre "dröhnende nationalistische Phraseologie", die das Proletariat "verwirrt und der Demagogie der bürgerlichen Klassen ausgeliefert" habe. (2)
Hundert Jahre später hat sich an dem problematischen Verhältnis der Parteilinken zur Frage der Nation wenig geändert. Der von Heinz Sünker und Sebastian Voigt herausgegebene Band Arbeiterbewegung - Nation - Globalisierung. Bestandsaufnahme einer alten Debatte, der auf einer Konferenz des Jahres 2012 basiert, versteht sich als Intervention. 2010 hatte Peter Brandt, Vertrauensdozent der Hans-Böckler-Stiftung, in einem Interview mit der rechtskonservativen Jungen Freiheit von der politischen Linken ein "positives - was nicht heißt: unkritisches Verhältnis zu Volk und Nation" gefordert (10). Eine Debatte über das Verhältnis der politischen Linken zu Nation und Volk haben schon viele versucht anzustoßen. (3) Thomas Haury hat in einer umfassenden Studie zur frühen DDR nachgezeichnet, inwiefern die parteikommunistische Linke immer wieder einen Gegensatz zwischen der Nation und "dem Kapital" konstruierte. (4) Von dieser Debatte führen die ersten Beiträge in Arbeiterbewegung - Nation - Globalisierung allerdings zunächst einmal weg. Marcel van der Linden, auf den Michael Vester antwortet, rekapituliert vor allem in Hinblick auf die Gewerkschaftsbewegung die verschiedenen Phasen des Internationalismus und fordert abschließend die Entwicklung eines "transnationalen Internationalismus", muss jedoch einräumen, dass dies ein "schwieriger Prozess sein wird" (40). Man hätte es sich denken können.
Gideon Botschs Lob der antifaschistischen Tradition in der gewerkschaftlichen Bildungsarbeit geht ebenfalls an der Grundfrage vorbei. Denn das Problem des Nationalismus innerhalb der Linken ist nicht zu verwechseln mit der Frage, wie weit sich die Linke politisch nach rechts bewegt - zumal, wie der Beitrag von Ursula Birsl zeigt, die antidemokratische Rechte nicht (mehr) so klar von der Mitte abzugrenzen ist. Doch die antifaschistische gewerkschaftliche Bildungsarbeit scheint selbst unter den eigenen Mitgliedern nur bedingt Erfolge zu zeitigen. Wie Botsch für die 1960er Jahre referiert, entsprach der "Anteil der Facharbeiter unter den NPD-Wählern [...] ziemlich exakt dem Landesschnitt". In der jungen NPD waren Gewerkschaftsmitglieder zur gleichen Zeit sogar "überrepräsentiert". (148)
Dieter Nelles' Beitrag über den Kampf der Internationalen Transportarbeiter Föderation (ITF) gegen die Nationalsozialisten sticht dahingegen in ein Wespennest. Denn die ITF wandte, so Nelles, sich zwischen 1933 und 1945 gegen die "Deutschlandidee" und sei dafür später auch aus den Gewerkschaften des "Landesverrats" bezichtigt worden. (101) Sebastian Wertmüller stellt die grundsätzliche Sichtweise, die den traditionellen Antifaschismus prägt, infrage, wonach es sich bei Rechtsextremen um verführte Menschen handle. Dem liege die Vorstellung zugrunde, die Mehrheit der Lohnabhängigen stünden eigentlich auf der politischen Linken. Weiter hilft da Heiko Beyers Kritik des "Standortnationalismus". Diese Form des Nationalismus verbinde alle politischen Spektren und kombiniere eine "Form der Kapitalismuskritik" mit nationalistischen Vorstellungen - auch in der Linken. Besonders habe sich das in der von der SPD angestoßenen "Heuschrecken"-Debatte gezeigt, in der "deutsche Realwirtschaft und anglo-amerikanische Finanzwirtschaft gegenübergestellt" und verschiedene Wirtschaftsformen "auf nationale Wesenheiten reduziert" wurden. (179) Es sei eben nicht per se progressiv oder emanzipatorisch, den "Kapitalismus" abzulehnen. Denn der Begriff "Kapitalismus" bezeichne in politischen Debatten des 21. Jahrhunderts nicht nur die Wirtschafts- und Gesellschaftsform, die von Karl Marx und vielen anderen analysiert wurde, sondern sei oft genug eine "Leerformel für abstrakt unfassbare Makrophänomene" (194), die sich scheinbar fassbar machen ließe an der "Wallstreet", dem "Finanzkapital" oder "den reichen Juden". Der Nationalismus hat, wie Thorsten Mense zeigt, in der Linken eine lange Vorgeschichte. Nicht nur in Bezug auf die Kolonien begrüßte die Dritte, die Kommunistische Internationale (Komintern) "nationale Befreiungsbewegungen", und zwar unabhängig von deren sonstigen politischen Ausrichtungen. Auch Deutschland galt der KPD Mitte der 1920er Jahre als "Kolonie". 1907 sagte ein bayerischer Sozialdemokrat, es sei "nicht wahr, dass international gleich antinational sei. Es ist nicht wahr, dass wir kein Vaterland haben". (125) 1923 schrieb ausgerechnet der spätere Rosa-Luxemburg-Biograf Paul Frölich in der Tageszeitung der KPD das Gleiche. (5) Wenn Christoph Jünke die Politik der Komintern und der KPD zu dieser Zeit als "eigentlich weniger nationalistisch als eben antiimperialistisch" bezeichnet (112), lässt er außer Acht, dass das eine das andere nicht ausschließt.
Entsprechend ist Klaus Holz' und Jan Weyands Schlussfolgerung zuzustimmen, dass es einer "radikale[n] Revision jedweder Form eines Nationalismus von links" bedarf. (226) Allerdings erfüllt ihre Analyse einer Hitler-Rede diesen Anspruch nur am Rande. Notwendig wäre - gerade in Hinblick auf den Anstoß des Sammelbands - eine Kritik der aktuellen Formen des linken Nationalismus. Das fängt nicht erst mit der Forderung des Spiegel-Online-Kolumnisten Jakob Augstein an, der 2015 in Reaktion auf die Neonazi-Gewalt in Heidenau einen "linken Populismus" forderte, "der die Wut auf das richtige Ziel lenkt". (6) Der Sammelband stößt zwar einerseits eine wichtige Debatte an, kam andererseits 2014 zu spät, wie man an den gegenwärtigen nationalen Bewegungen wie Pegida oder den Mahnwachen merkt, auf die die politische Linke bestenfalls verzweifelt reagiert. Grundsätzlich macht der Band deutlich, dass eine radikale Kritik der Nation weder von der akademischen Wissenschaft noch von der politischen Linken zu erhoffen ist. Es sind nur Einzelne, die das leisten. Wie zu Zeiten Rosa Luxemburgs.
Anmerkungen:
[1] Rosa Luxemburg: Nationalitätenfrage und Autonomie, aus dem Polnischen von Holger Politt, Berlin 2012, 73.
[2] Rosa Luxemburg: Zur russischen Revolution, in: Dies.: Gesammelte Werke, Band 4: August 1914 bis Januar 1919, Berlin 1974, 332-365, hier 350.
[3] Tom Nairn / Eric Hobsbawn / Régis Debray / Michael Löwy: Nationalismus und Marxismus. Anstoß zu einer notwendigen Debatte, Berlin 1978.
[4] Thomas Haury: Antisemitismus von links. Kommunistische Ideologie, Nationalismus und Antizionismus in der frühen DDR, Hamburg 2002. Siehe auch Robert Ogman: Against the Nation. Anti-National Politics in Germany, Porsgrunn 2013.
[5] Olaf Kistenmacher: Arbeit und "jüdisches Kapital". Antisemitische Aussagen in der KPD-Tageszeitung Die Rote Fahne während der Weimarer Republik, Bremen 2016, 73.
[6] Jakob Augstein: Demonstriert lieber gegen die Banken, unter: http://www.spiegel.de/politik/deutschland/augstein-wir-brauchen-einen-linken-populismus-a-1050085.html (zuletzt: 25. November 2015).
Olaf Kistenmacher