Sebastian Voigt: Der Judenhass. Eine Geschichte ohne Ende?, Stuttgart: S. Hirzel 2024, 232 S., ISBN 978-3-7776-2937-7, EUR 25,00
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E. M. Rose: The Murder of William of Norwich. The Origins of the Blood Libel in Medieval Europe, New York: Oxford University Press 2015
Martin Jander / Anetta Kahane (Hgg.): Juden in der DDR. Jüdisch sein zwischen Anpassung, Dissidenz, Illusionen und Repression. Porträts, Berlin / Leipzig: Hentrich & Hentrich 2021
Wolfgang Benz (Hg.): Handbuch des Antisemitismus. Judenfeindschaft in Geschichte und Gegenwart. Bd. 7: Literatur, Film, Theater und Kunst, Berlin / Boston: De Gruyter Oldenbourg 2015
Micha Brumlik: Antisemitismus. 100 Seiten, Stuttgart: Reclam 2020
Kristoff Kerl: Männlichkeit und moderner Antisemitismus. Eine Genealogie des Leo Frank-Case, 1860er-1920er Jahre, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2017
Johannes Leicht: Heinrich Claß 1868-1953. Die politische Biographie eines Alldeutschen, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2012
Eran Rolnik: Freud auf Hebräisch. Geschichte der Psychoanalyse im jüdischen Palästina, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2013
Julia Abel: Walter Benjamins Übersetzungsästhetik. Die Aufgabe des Übersetzers im Kontext von Benjamins Frühwerk und seiner Zeit, Bielefeld: Aisthesis Verlag 2014
Sebastian Voigt / Heinz Sünker (Hgg.): Arbeiterbewegung - Nation - Globalisierung. Bestandsaufnahmen einer alten Debatte, Weilerswist: Velbrück 2014
Sebastian Voigt (ed.): Since the Boom. Continuity and Change in the Western Industrialized World after 1970, Toronto: University of Toronto Press 2021
Bernd Heyl / Sebastian Voigt / Edgar Weick (Hgg.): Ernest Jouhy. Zur Aktualität eines leidenschaftlichen Pädagogen, Frankfurt/M: Brandes & Apsel 2017
Das Buch von Sebastian Voigt "Der Judenhass. Eine Geschichte ohne Ende?" setzt sich chronologisch vom Mittelalter bis in die Gegenwart mit diesem verstörenden Phänomen des Hasses auseinander. Das Buch richtet sich explizit an "eine interessierte Öffentlichkeit" (10) und nicht an ein akademisches Fachpublikum. Es schließt mit einem Nachwort, in dem festgehalten wird, dass die Arbeit daran bereits vor dem 7. Oktober 2023, also dem Angriff der Hamas auf Israel, abgeschlossen war (226). Diese erklärende Einschränkung ist wichtig vor dem Hintergrund zu lesen, was sich seitdem für Jüdinnen und Juden verändert hat: der globale Anstieg von Antisemitismus.
Positiv hervorzuheben ist, dass sich der Autor nicht scheut, ein solch komplexes Thema anzugehen, auch auf die Gefahr hin, dass nicht alle Aspekte gleichermaßen behandelt werden können. So weist Voigt im Kapitel "Revolution und Deutsche Frage. Die Judenfeindschaft von der 1848er-Revolution bis zur deutschen Reichsgründung 1871 (49-57)" auf den Umstand hin, dass in diesen Jahren der Judenhass eine "Verschiebung ins jüdische Wesen" (54) zur Folge hatte, der durch die unterschiedlichen Grade von Assimilation der deutschen Juden als Gefahr von Seiten der Judenhasser verstanden wurde. Im Kapitel "Wandlungen des Hasses. Die Judenfeindschaft von der Reichsgründung bis zur Jahrhundertwende (58-74)" geht Voigt auf einen breiten Konsens in der Gesellschaft ein, demzufolge postuliert wurde, "die soziale Frage ist die Judenfrage." (59) Dass "Die Juden als innere Feinde" (84) verstanden wurden, zeigt sich im Kapitel "Internationale Dimensionen. Die Judenfeindschaft von der Jahrhundertwende bis zum Ende des Ersten Weltkrieges 1918 (75-87)". Hier geht Voigt auch auf die dezidierte Rolle der SPD gegen den Judenhass (73-74) ein, weshalb die Partei als "Judenschutzgruppe" (74) von Kritikern diskreditiert wurde. Auch wenn im Buch verschiedentlich versucht wird, Antisemitismus (und Judenhass) als transnationales Phänomen zu verstehen, wird dies nur angedeutet (75-85), beispielsweise in Bezug auf die Russische(n) Revolution(en) von 1917. Die stärksten Kapitel zur Weimarer Republik und zum Nationalsozialismus sind am Ende des Buches zu finden. Zurecht beschreibt Voigt die Juden als treueste Unterstützer der Weimarer Republik und beleuchtet kritisch die Rolle von KPD und SPD (105), wobei von der SPD eine starke Kraft gegen den Antisemitismus ausging, der wiederum von Vertretern der KPD offen herangezogen wurde, um dem Kommunismus propagandistisch den Weg zu bereiten.
Im Kontext des Nationalsozialismus wurde die Losung ausgegeben, "Das NS-Regime wehre sich lediglich" gegen die Juden (128), tatsächlich startete es einen "Krieg gegen die Juden" (135), so der Buchtitel von Lucy Dawidowicz aus dem Jahre 1975. Die Alliierten beendeten zwar den 2. Weltkrieg (141), verhielten sich jedoch passiv dem Judenmord gegenüber. Das Leid und Schicksal der Jüdinnen und Juden spielten keine Rolle, leider auch nicht nach dem Ende von Weltkrieg und Holocaust. Dies wird auch im Kapitel "Die beiden Deutschlands. Die Judenfeindschaft von der frühen Nachkriegszeit bis zur Wiedervereinigung 1990 (146-186)" deutlich. Hier widmet sich der Autor unter anderem der fatalen Faschismuskritik der DDR (155-56). Dass Verschwörungstheorien in kommunistischen Staaten eine entsetzliche Wirkung erzielten, erklärt Voigt am Beispiel des Nicht-Juden Paul Merker (158). Erst in einer Erklärung vom April 1990 erklärten die Vertreter der ersten frei gewählten Volkskammer der DDR: "Durch Deutsche ist während der Zeit des Nationalsozialismus den Völkern der Welt unermessliches Leid zugefügt worden." (161) - Juden wurden auch hier wieder nicht erwähnt. Anders sah dies in Westdeutschland aus. Die Bedeutung der NS-Prozesse (165) und die Rolle der Studierenden spielten eine gewichtige Rolle in der alten Bundesrepublik. Hier sollte insbesondere aber auch der Antisemitismus von links (167), der RAF-Terror (173), der häufig in den sekundären Antisemitismus (168) mündete, von sich reden machen.
Im abschließenden Kapitel "Kontroversen. Die Judenfeindschaft von der Wiedervereinigung 1990 bis heute (187-231)" zeigt Voigt einen Querschnitt von zeitgenössischen und aktuellen Debatten wie der Walser-Bubis-Debatte, des 11.September 2001, der Corona Leugner-Debatte, der AFD, wie stark und erschreckend hier jeweils der Antisemitismus die zentrale Rolle spielte.
Es bleiben einige wenige kritische Einwände: Voigt konzentriert sich in seiner Abhandlung fast ausschließlich auf (West-)Europa. Es fehlt somit eine fundierte Analyse der transnationalen Komponenten des Judenhasses. Außerdem stellt sich bei der Lektüre die Frage, weshalb Luther und dessen Judenhass im Kapitel Mittelalter integriert wurde (25f.), vor allem, weil im nächsten Kapitel dann ein Unterkapitel "Humanismus und Protestantismus" (29-31) eingefügt ist, das Luther gar nicht erwähnt. Auch die Wandlung Luthers gegenüber den Juden hätte mehr Erklärung bedurft, insbesondere auch wegen Luthers Bedeutung während des Nationalsozialismus.
Zudem unterlässt es der Autor, eine klare Definition von Judenhass zu liefern und diesen vom mittelalterlichen Antijudaismus, der Judenfeindschaft und dem Antisemitismus abzugrenzen. Diese Problematik hinsichtlich der Verwendung verschiedener Definitionen wird bereits in der Einleitung deutlich, in der es heißt: "Der Judenhass ist damit eine Gefahr für die moderne, pluralistische Gesellschaft, für die Grundlagen unseres Zusammenlebens. Der Antisemitismus trifft zuerst die Juden, ist aber kein jüdisches, sondern ein gesamtgesellschaftliches Problem." (9) Hier wird in den beiden aufeinanderfolgenden Sätzen insinuiert, als seien Judenhass und Antisemitismus das gleiche. Zweifellos trifft es zu, dass beide Ausprägungen auch die Gesellschaft als Ganzes herausfordern, die Leidtragenden jedoch immer Jüdinnen und Juden sind.
Zudem besteht das Literaturverzeichnis leider nur aus deutschsprachigen Titeln. So fehlt beispielsweise die richtungsweise Studie von David Nirenberg, "Anti-Judaism. The Western Tradition" (2013) (deutsch: "Anti-Judaismus: Eine andere Geschichte des westlichen Denkens", 2017) Darüber hinaus werden im Buch Namen von Autorinnen und Autoren teilweise genannt, teilweise nicht. Hier hätte mehr Einheitlichkeit auch dem Lesefluss geholfen. Zudem fehlt ein Index mit einem Namens- und Ortsverzeichnis, der sehr nützlich gewesen wäre.
Insgesamt stellt das Buch eine wichtige Ergänzung zu den bereits vorhandenen Werken zum Judenhass und Antisemitismus dar. Das Buch ist als klares Plädoyer gegen den aktuellen Judenhass zu lesen; eine breite Leserschaft ist ihm zu wünschen.
Carsten Schapkow