Franz-Werner Kersting / Clemens Zimmermann (Hgg.): Stadt-Land-Beziehungen im 20. Jahrhundert. Geschichts- und kulturwissenschaftliche Perspektiven (= Forschungen zur Regionalgeschichte; Bd. 77), Paderborn: Ferdinand Schöningh 2015, 330 S., ISBN 978-3-506-78152-9, EUR 38,00
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Vielerorts wurden seit dem 20. Jahrhundert das "Verschwinden des Dorfes" und die Allgegenwart der Stadt diagnostiziert. Ist es also überhaupt sinnvoll, sich noch für das 20., vor allem die zweite Hälfte dieses Jahrhunderts, mit den Beziehungen zwischen Stadt und Land zu beschäftigen? Ja, das ist es, denn, wie die Herausgeber des vorliegenden Bandes in ihrer Einleitung unterstreichen, die Stadt-Land-Differenz bestand das gesamte Jahrhundert über, und sie besteht weiterhin. Daher kann das Verhältnis von Stadt und Land, so die These des Bandes, als analytische Perspektive für ganz unterschiedliche Aspekte der Geschichte des 20. Jahrhunderts dienen.
Im Sammelband sind 14 Aufsätze unterschiedlichsten Zuschnitts versammelt, die eine Tagung dokumentieren, die im Oktober 2012 vom Forschungsverbund "Stadt-Land-Beziehungen im 20. Jahrhundert" veranstaltet wurde. Der Forschungsverbund und die Tagung unternahmen einen Versuch, der ansonsten nicht häufig gewagt wird: Expertinnen und Experten für ländliche wie für städtische Geschichte an einen Tisch zu bekommen und die Beziehungen zwischen beiden Räumen auszuloten. Entstanden ist daraus ein Potpourri unterschiedlichster Forschungsprojekte, die vor allem die Vielfältigkeit der Stadt-Land-Beziehungen im 20. Jahrhundert zeigen. Die Spannweite reicht von konzeptionellen Überlegungen zur Soziologie der Stadt-Land-Beziehungen oder zur Suburbanisierung als analytischem Zugriff auf das 20. Jahrhundert bis hin zu empirischen Studien über die Verbreitung von musikalischen Praktiken in dörflichen Kontexten und Amateurfilmen zwischen Stadt und Land.
Genauso unterschiedlich wie die Themen sind auch die Formen, in denen das Stadt-Land-Verhältnis gefasst wird. In Anlehnung an die britische rural sociology fasst beispielsweise Stephan Beetz "Ländlichkeit" und "Urbanität" in erster Linie als Selbstbeschreibungskategorien einer Gesellschaft. Statt sie als essentielle Kategorien zu verstehen, unterstreicht er die Handlungsrelevanz der Begriffe: "Die kategorialen Differenzen von 'Stadt' und 'Land' sind solange von wissenschaftlichem Interesse, wie sie in der Gesellschaft auftauchen und zur Beschreibung von Lebenswirklichkeiten dienen." (80)
Clemens Zimmermann hingegen greift den Prozess der Suburbanisierung auf. Statt aber einfach eine Verstädterung des vormals ländlichen Raums zu postulieren, unterstreicht er den hybriden Charakter des suburbanen Raums. Auch suburbanisierte Dörfer wiesen weiterhin Spezifika gegenüber Städten auf, sei es in den "Sozialstrukturen, Werten, [...], Soziabilität, Bauformen, Lebensweisen (Garten etc.)" (68). Dieser Vielfalt, so Zimmermann, müsse nun empirisch nachgegangen werden, statt die Suburbanisierung einfach zu konstatieren.
Gunter Mahlerwein wiederum untersucht musikalische Praktiken im ländlichen Raum in Rheinhessen bis zu den 1980er-Jahren. Anhand dieses reizvollen Gegenstandes zeigt er zum einen, dass musikalische Praktiken seit dem 19. Jahrhundert in sehr vielfältiger Weise zwischen Stadt und Land ausgetauscht wurden. Zum anderen macht er deutlich, dass sich die Jugendmusikkultur im ländlichen Raum in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts nicht nur an die städtischen Gegebenheiten anglich. Die ländlichen Praktiken wurden nicht durch städtische Musik überschrieben, sondern die städtischen Einflüsse wurden auf je spezifische Weise angeeignet und an bereits etablierte Praktiken adaptiert.
Julia Paulus widmet sich in ihrem Beitrag der Emanzipationsbewegung von Frauen seit den 1970er-Jahren in ihren spezifischen Landbezügen. Hierbei arbeitet sie zum einen heraus, welche wichtige Rolle die "Provinz" diskursiv in der feministischen Debatte der 1970er-Jahre als Gegenbild spielte, waren Dörfer und Kleinstädte doch weitestgehend als das "Enge" und "Unbewegliche" in den Medien der Frauenbewegung präsent. Gleichwohl kann Paulus zeigen, unter welchen besonderen Voraussetzungen auch Frauen in ländlichen Kontexten sich als Teil der Frauenbewegung verstanden und zu ihrer Institutionalisierung beitrugen. Nicht nur diskursiv war der Bezug auf die Provinz eine handlungsrelevante Größe der Frauenbewegung.
Peter Moser, dessen Beitrag etwas unglücklich im Kapitel "Internationale Perspektiven" gelandet ist, diskutiert noch einmal einen anderen Modus von Stadt-Land-Verhältnissen. Indem er die Schweiz mit Irland vergleicht, kann er herausarbeiten, wie wichtig die zugestandenen Entwicklungspotentiale für die Entwicklung des Stadt-Land-Verhältnisses waren. In der Schweiz, wo ländliche Räume anders adressiert wurden als nur "noch nicht städtisch", wurde eine andere Entwicklung möglich als in Irland, das sehr stark auf Dublin ausgerichtet ist. Allerdings beschränkte sich dieses angesprochene eigenständige Entwicklungspotential der ländlichen Räume nicht allein auf diskursive Zuschreibungen, sondern zudem auch auf die jeweils zur Verfügung stehenden natürlichen Ressourcen als auch die wandelbaren Funktionen, die die ländlichen Räume für "Städte, Agglomerationen und Nationalstaaten ausübten" (291). Daher sollten Stadt und Land nicht als Gegensatz verstanden werden, sondern als jeweils konkrete kommunikative und materielle Räume, die in einem komplexen Wechselspiel miteinander und den jeweiligen Umwelten standen.
So vielfältig und unterschiedlich die versammelten Aufsätze auch sind, so zeigen sie doch insgesamt, dass es zu kurz greift, wenn die Geschichte des 20. Jahrhunderts implizit immer die Geschichte des städtischen Lebens ist. Eine räumlich orientierte Gesellschaftsgeschichte, wie sie die Autoren des Bandes fordern, muss dazu beitragen, die Stadt als das "Allgemeine" der Geschichte in der Moderne zu hinterfragen. Nicht nur ländliche Räume müssen in ihrem Zusammenspiel mit städtischen Räumen verstanden werden, sondern auch umgekehrt. Zudem wird durch eine solche räumliche Sensibilität erreicht, dass allzu starke Generalisierungen hinterfragt werden. Ebenso wenig wie es "das Land" im 20. Jahrhundert gab, gab es "die Stadt". Diese Entitäten müssen aufgelöst und durch historische Konkretion ersetzt werden. Wie das geht, zeigen die empirischen Beispiele des Sammelbandes.
Ein weiterer Schritt, der die Bedeutung der Stadt-Land-Beziehungen und des ländlichen Raums für eine Gesellschafts- und Kulturgeschichte des 20. Jahrhunderts unter Beweis stellen würde, wäre nun allerdings noch eine stärkere Ankopplung an aktuelle Problemstellungen der Zeitgeschichte. So ist es doch verwunderlich, dass ein Band, der explizit dazu beitragen will, dieses Themenfeld im Zentrum der Geschichtswissenschaft zu verankern, und gleichzeitig einen zeitlichen Schwerpunkt in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts setzt, vollkommen ohne die Diskussionen der "Strukturbruch"-These auskommt. Eine stärkere Andockung an Themen der Zeitgeschichte wäre nicht nur strategisch wünschenswert, um die Geschichte des ländlichen Raums und seiner Beziehungen aus der Exoten-Ecke herauszuholen. Darüber hinaus könnte vermutlich eine historisch konkrete Erforschung der 1970er-Jahre im ländlichen Raum erheblich zu einer weiteren Problematisierung der Strukturbruch-These beitragen.
Anette Schlimm