Anette Blaschke: Zwischen "Dorfgemeinschaft" und "Volksgemeinschaft". Landbevölkerung und ländliche Lebenswelten im Nationalsozialismus (= Nationalsozialistische 'Volksgemeinschaft'; Bd. 8), Paderborn: Ferdinand Schöningh 2018, 458 S., ISBN 978-3-506-78737-8, EUR 68,00
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Welche Strategien, welche Argumentationsweisen nutzten ländliche Akteure während des Nationalsozialismus, um ihre Interessen zu vertreten? Wie wandelten sich die ländlichen Beziehungsnetzwerke in dieser Zeit? Diese Fragen stellt Anette Blaschke im Rahmen ihrer Dissertation, die im Forschungskolleg "Nationalsozialistische 'Volksgemeinschaft'? Konstruktion, gesellschaftliche Wirkungsmacht und Erinnerung vor Ort" entstanden ist und nun im Druck vorliegt. Blaschke diskutiert das Forschungskonzept "Volksgemeinschaft" kritisch und argumentiert abschließend, dass es für ihre Studie nicht geeignet sei, denn es spiele als zeitgenössisches Konzept in ihren Quellen kaum eine Rolle: "Für Landwirte und Landwirtinnen blieben [...] häufig ganz andere, individuelle Modi des Handelns, der Interaktion und Argumentation prädominierend, die mit 'sozialen Praxen der Vergemeinschaftung' schwerlich beschreibbar sind." (16) Stattdessen entscheidet sie sich, mit dem praxeologisch inspirierten Lebensweltkonzept zu arbeiten, das es ihr erlaubt, soziale Interaktionen in ihren konkreten Sozialräumen zu rekonstruieren. Als Quellengrundlage dienen ihr vor allem die Erbhof- und Entschuldungsakten der Kreisbauernschaft Hameln-Pyrmont im südlichen Niedersachsen.
Entbehrlich erscheinen die zunächst ausführlich entfalteten Überlegungen zu Lebenswelten und sozialen Interaktionsräumen, die der bisherigen Diskussion kaum etwas hinzufügen [1]. Auch das folgende Kapitel, das auf der Basis von Gesamtdarstellungen die Vorgeschichte der ländlichen Bevölkerungen seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert skizziert, hätte deutlich gekürzt werden können, zumal vieles in diesem Kapitel keineswegs spezifisch für Blaschkes Untersuchungsraum und die Darstellung wenig innovativ ist. Muss etwa ausgerechnet Hans-Ulrich Wehler als Gewährsmann für die ländlichen Mentalitäten um 1900 herangezogen werden, der weder ein ausgewiesener Kenner der Mentalitäts- noch der Agrargeschichte war?
Sehr anregend sind die folgenden beiden Großkapitel, in denen sich die Autorin mit ihrem eigenen Quellenmaterial beschäftigt. Zunächst widmet sich Blaschke einer Akteursgruppe, die bislang noch zu wenig untersucht wurde, weil sie wenig schriftliches Material hinterlassen hat und als lokale Funktionärsgruppe von den meisten strukturell argumentierenden Forscherinnen und Forschern bislang ignoriert wurde. Die Ortsbauernführer übernahmen jedoch, so legt Blaschke überzeugend dar, eine wichtige Scharnierfunktion zwischen Reichsnährstand und den lokalen landwirtschaftlichen Akteuren. Sie dienten den Kreisbauernschaften als erste Ansprechpartner und Gutachter über lokale Verhältnisse. Auch für die Landwirtinnen und Landwirte vor Ort waren die Ortsbauernführer häufig (nicht immer) Ansprechpartner zur Vertretung ihrer Interessen. So müssen die Ortsbauernführer neben den Bürgermeistern und den NSDAP-Ortsgruppenleitern als wichtige dörfliche Akteure ernstgenommen werden. Blaschke arbeitet heraus, dass diese vor allem lokalistisch handelten, also in erster Linie "ihr" Dorf - weniger eine abstrakte "Volksgemeinschaft" - im Blick hatten.
Im umfangreichsten Kapitel - "Landwirtschaftliche Handlungsräume: Konfrontationen, Kooperationen, Verflechtungen" - rekonstruiert die Autorin schließlich sehr dicht unterschiedliche Konfliktfälle, die Eingang in die Überlieferung der Kreisbauernschaft gefunden haben. Dabei handelt es sich um im weitesten Sinne landwirtschaftliche Fragen - von Konflikten um den Status als Erbhof über Fragen der landwirtschaftlichen Arbeits- und Marktbeziehungen bis hin zur Bewirtschaftung der Höfe im Krieg. Hier zeigt die Autorin sehr deutlich, wie unterschiedliche Akteure mittels Versatzstücken der nationalsozialistischen Agrarideologie ihre Interessen zu unterstreichen und durchzusetzen versuchten. Familiäre oder innerdörfliche Konflikte konnten nun durch die neuen Strukturen wie Orts- und Kreisbauernschaften oder Anerbengerichte auf eine politisch-ideologische Ebene gehoben werden, was auch bislang sozial benachteiligten Akteuren Chancen auf Durchsetzung ihrer Interessen eröffnete.
Die Schlussfolgerungen, die die Autorin aus der minutiösen Rekonstruktion einer Vielzahl von Konflikten in der von ihr untersuchten Region zieht, sind beachtenswert. Sie diskutiert beispielsweise die weiterhin relevante Frage, wann die landwirtschaftlich geprägten Sozialräume einen Modernisierungsschub erlebten. Gegenüber sozial- und wirtschaftsgeschichtlichen Studien, die die "agrarische Transition" (Mai) erst in den 1950er Jahren verorten, macht Blaschke die Veränderungen auf der Ebene der Aushandlungsprozesse und Deutungsmuster stark. Denn die mikrohistorische Rekonstruktion zeige, "dass der Nationalsozialismus die Handlungs- und Deutungshorizonte landwirtschaftlicher Akteure erweiterte sowie lokale Interaktionen und die lokalen Sozialräume insgesamt verstärkt für außenstehende Akteure und übergeordnete Strukturen öffnete" (431). Hier wäre jedoch zu fragen, ob nicht sinnvollerweise eine Studie deutlich vor 1933 ansetzen müsste, um die komplexer werdende "Einbindung in netzwerkähnliche Strukturen" (426) der ländlichen Sozialräume über einen längeren Zeitraum in den Blick nehmen zu können.
Auch auf anderen Ebenen unterstreicht Blaschke den transformativen Charakter der nationalsozialistischen Zeit. So betont sie etwa, dass ein romantisierender Blick auf vermeintlich intakte "Dorfgemeinschaften" fehl am Platze sei, zeigten die Konfliktfälle doch deutlich, dass es eher zu einer "Atomisierung" (429) der landwirtschaftlichen Interessenlagen gekommen sei. Ob dieser Eindruck jedoch möglicherweise auch von ihrem Quellensample herrührt, das eben in erster Linie Konflikte um bäuerliche Eigenwirtschaften (und damit verbunden: meist familiale oder ökonomische Eigeninteressen) sichtbar machte, diskutiert die Autorin leider nicht.
Blaschke gelingt es, die Dichotomie von nationalsozialistischer Herrschaft und dorfgemeindlicher Gemeinschaft durch einen systematischen Fokus auf die Interaktionsebene zu unterlaufen. Dennoch: Der selbstgestellte Anspruch, nämlich "einen neuartigen Beitrag zum Verständnis ländlicher, vorrangig landwirtschaftlich geprägter Lebenswelten im Nationalsozialismus zu leisten" (9), erfüllt das Werk nicht, sondern schließt im positiven Sinne an viele bekannte Befunde, etwa von Münkel oder Langthaler [2], an. Doch unbestritten gehört die Studie ins Regal all jener Forscherinnen und Forscher, die sich für die Zeitgeschichte des ländlichen Raums interessieren.
Anmerkungen:
[1] Blaschke stützt sich hier ausführlich auf Ernst Langthaler / Reinhard Sieder: Die Dorfgrenzen sind nicht die Grenzen des Dorfes, in: Dies. (Hgg.): Über die Dörfer. Ländliche Lebenswelten in der Moderne, Wien 2000, 7-30.
[2] Ernst Langthaler: Schlachtfelder. Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938-1945, Wien u. a. 2015; Daniela Münkel: Nationalsozialistische Agrarpolitik und Bauernalltag, Frankfurt/M. 1996.
Anette Schlimm