Herman J. Selderhuis / Ernst-Joachim Waschke (Hgg.): Reformation und Rationalität (= Refo500 Academic Studies; Vol. 17), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2015, 317 S., ISBN 978-3-525-55079-3, EUR 49,99
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"Reformation und Rationalität" - nicht nur neben-, sondern auch und vor allem miteinander lassen beide Begriffe in ihrer thematisch-inhaltlichen Verschränkung an unermesslich viele Deutungs- oder Füllungsoptionen denken. Und bereits die Titel der 14 Beiträge des hier anzuzeigenden Tagungsbandes bezeugen die ganze Weite des Horizonts, der sich mit dem Versuch der Verhältnisbestimmung von Reformation und Rationalität auftut: Primär institutions- und wissenschaftsgeschichtliche Ansätze stehen neben reformations-, theologie- und philosophiegeschichtlichen. Wie nun die einzelnen Studien mit dem ihnen gestellten Problem der inhaltlichen Bändigung, also der Notwendigkeit der Konkretisierung des Begriffspaars "Reformation und Rationalität" umgehen, mag der folgende kursorische Durchgang verdeutlichen.
Die erste der drei den Band gliedernden Sektionen heißt "Wittenberg", womit der rote Faden der vier Aufsätze, die sie umfasst, dann auch schon benannt ist. Den Anfang macht Helmut G. Walther, der sich mit der Leucorea im Kontext der ernestinischen Universitätsgründungen befasst (11-25). In seiner gleichermaßen umfassenden wie vielschichtigen Studie nimmt Walther die politischen und wirtschaftlichen Voraussetzungen, die daraus resultierenden institutionellen und rechtlichen Eigenheiten sowie die konzeptionellen und strukturellen Herausforderungen der Universitätsgründungen Leipzig, Wittenberg und schließlich Jena in den Blick. Armin Kohnle und Beate Kusche stellen in ihrem Beitrag dann die Wittenberger Theologische Fakultät in den Mittelpunkt (27-42). Auf knappem Raum ordnen sie die Anfänge der Fakultät in die Gründung der Leucorea ein, beleuchten ihre personelle, finanzielle und räumliche Ausstattung und stellen schlaglichtartig das Profil von Theologie und Lehrbetrieb heraus. Den Fokus wiederum etwas enger stellend, widmet sich anschließend Volker Leppin der Ausgestaltung und Umformung des Formats der Disputation an der Fakultät im Zuge der anbrechenden Reformation (43-57). Dabei bleibt er bei gattungstheoretischen und institutionsgeschichtlichen Überlegungen nicht stehen, sondern entwickelt quellenbasiert wirkungsgeschichtliche Perspektiven, die sich ihrerseits für die aktuelle Reformationsforschung fruchtbar machen lassen und im Rahmen derselben zu diskutieren sind: Von Eck über Karlstadt zu Luther reichen seine teils pointierten Überlegungen zur Genese der Eigenart der Wittenberger Disputationen, die dann als Explikations- und Verbreitungsinstanzen bekanntlich auch reformationshistorisch von erheblicher Bedeutung sein sollten (49-55). Ein anderes akademisches Format, nämlich die theologischen Promotionen, untersucht der Beitrag von Heiner Lück und Stefan Weise (59-92). Er arbeitet anhand dreier einschlägiger Dokumente die Rechtsgrundlagen des Wittenberger Promotionswesens heraus, bevor er eine Quelle einführt, mittels derer die Rituale vorgestellt werden, die den Akt der theologischen Promotion umkleiden und dabei durch ihren Vollzug in seiner Bedeutung untermauern. Abgerundet werden die entsprechenden Ausführungen dankenswerterweise durch eine Edition des Textes (74-87).
Geht die erste Sektion also in ihrer Anordnung a maiore ad minus vor, bündelt die zweite mit ihren vier Studien bestimmte "Perspektiven", die eher unvermittelt nebeneinander den Blick auch über Wittenberg hinaus weiten. So fragt Günter Frank - naturgemäß streng exemplarisch - nach philosophischen Aspekten der Reformation (95-115). Nach einer eigentümlichen Identifikation dessen, was eigentlich die Reformation ausmache (98f.), zieht er zwei inhaltliche Linien aus, mittels derer er nachweist, wie bestimmte reformatorische Grundanliegen philosophiegeschichtlich wirksam werden und entsprechend Bedeutung erlangen. Den wissenschaftsgeschichtlichen Aufnahme- und Umformungsprozessen, die mit der Reformation einhergehen, geht dann auch Michael Weichenhan nach (117-174): Sein ausladender, quellengesättigter Beitrag ist dem komplexen In- und Miteinander von naturphilosophischer Argumentation, reformatorisch-theologischen Kerngedanken und mathematisch-astronomischem Erkenntnisinteresse gewidmet, wobei er renaissancehumanistische Verwurzelungen genauso gekonnt ins Gespräch einbezieht wie philosophiegeschichtliche Prägegestalten des Mittelalters. Bei Peter Opitz steht die Zürcher Reformation im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit (175-192). Das Zusammenspiel von humanistischer Rationalität und reformatorischer Theologie beleuchtet er am Beispiel der Zürcher Hohen Schule, genauer: der dort von Conrad Gessner geprägten Naturforschung. Die zweite Sektion schließt mit dem Aufsatz von Gijsbert van den Brink (193-205). Er geht der Frage nach, inwiefern die Reformation - besonders in ihrer Genfer Prägung - das Feld für das Werden der modernen Wissenschaft bereitet hat. Bestimmte modernitäts- und kulturtheoretische Reflexionsmodelle aufgreifend, verortet er die Basis für den reformatorischen Beitrag zur Entwicklung der Naturwissenschaften in der von Augustin entscheidend geprägten Anthropologie und dem nicht nur, aber auch daraus resultierenden Misstrauen gegenüber dem Vermögen der menschlichen Vernunft.
Die dritte und letzte Sektion ist mit "Auswirkungen" überschrieben. Eröffnet wird sie von der Studie Aza Goudriaans (209-224). Sie befasst sich mit der Augustin-Rezeption in Vernunftlehren der reformierten Orthodoxie und bildet so gemeinsam mit ihrer Vorgängerin gleichsam das Brückenstück zwischen der zweiten und der dritten Sektion. Den Schwenk zur lutherischen Orthodoxie vollzieht anschließend Joar Haga (225-237). Er spürt dem Wandel in der Beurteilung der Vernunft nach, der sich mit dem veränderten Verhältnis zur Metaphysik einstellt: Einst dem scharfen Verdikt Luthers unterworfen, schwingt sie sich bis ins 17. Jahrhundert selbst in den Reihen konservativer Theologen erneut zu akademischem Renommee auf, bevor ihr bei zunehmender Emanzipation der Philosophie von der Theologie allmählich der Abschied gegeben wird. Tarald Rasmussen bietet mit seinem Aufsatz eine Fallstudie zu Niels Hemmingsens De Methodis (239-252). Er konzentriert sich dabei auf die dort vorgetragene Schriftlehre, die bezüglich der Schriftauslegung reformatorisch-theologische Einsichten konsequent aufnimmt und so Schrift und Vernunft eng aufeinander bezieht. Doch zeichnet sie sich durch einen gewissen Traditionsskeptizismus aus, der letztlich dazu führt, der Verwissenschaftlichung der Schriftauslegung an entscheidender Stelle vorzuarbeiten. Mit Albert Molnár steht ein Vertreter des ungarischen Reformiertentums im Zentrum der Überlegungen András Szabós zum Verhältnis von Rationalität und Wissenschaft (253-262). Schwerpunktmäßig anhand des Tagebuchs Molnárs wird dieser als frühneuzeitlicher Denker vorgestellt, der sich - gedanklich hochgradig beweglich - in ganz unterschiedlichen Strömungen der vernunftaffinen Philosophie und Theologie seiner Zeit gleichermaßen zu Hause fühlt und so nach Szabó in eine Linie gehört mit den Vorreitern bestimmter Aufklärungsprogramme. Andreas J. Becks Studie beleuchtet die großen ideengeschichtlichen Umformungsprozesse des 17. Jahrhunderts dann wieder am Beispiel westeuropäischer Denker und der von ihnen forcierten Renaissance der Scholastik (263-288). Entlang der entsprechenden Gedanken Keckermanns, Voetius' und Coccejus' rekonstruiert er die zunehmend komplexen Zuordnungsversuche von Vernunft und Glaube, die der konstruktive Rekurs auf scholastische Systeme und Methoden erlaubt. Eine ähnliche Perspektive wählt auch der Beitrag von Henk van den Belt (289-311): Die denkerischen Herausforderungen, mit denen sich die reformierte Theologie des 17. Jahrhunderts auch innerhalb ihrer selbst konfrontiert sieht, und die Ansätze, mittels derer sie jenen zu begegnen sucht, stellt er am Beispiel eines reformierten Dogmatiklehrbuches, der Synopsis Purioris Theologiae, dar. Damit gelingt ihm der gleichermaßen exemplarische wie sensible Nachvollzug der Neujustierungen und Umformungen, die sich im Rahmen orthodoxer Dogmatik jener Zeit vollziehen, weil und sofern die Vernunft aufrückt zu einer der wichtigsten Plausibilisierungsinstanzen theologischen Denkens.
So versammelt der Band eine ganze Reihe erhellender und anregender Fallstudien zu einem an Breite schwerlich zu überbietenden Themenfeld, das so in seiner Vielschichtigkeit sicher längst nicht ausgeschöpft ist. Dabei verbleibt er allermeist auf der Ebene des Exemplarischen; grundlegende Entwürfe, die beispielsweise bewusst das Gespräch mit den entsprechenden großen theologie- und dogmengeschichtlichen Vorstößen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts suchen, bietet er - trotz der gewählten umfassenden Titelformulierung - nicht. Das lässt sich auch daran festmachen, dass einerseits die lutherische Orthodoxie, anderseits bestimmte profiliert protestantische Aufklärungsprogramme mit ihren Vernunft- oder Rationalitätsdiskursen nur wenig bis gar keine Beachtung finden. Die Hinzufügung vielleicht eines Untertitels zur Näherbestimmung des Forschungsgegenstands wäre also ratsam gewesen. Das schmälert den Wert der Einzelstudien, denen Bibliografien beigegeben sind, freilich keineswegs. Allerdings bietet nur ein Namensregister Hilfe bei der Orientierung; ein Sach- oder Begriffsregister fehlt genauso wie ein Autorenverzeichnis.
Christian Volkmar Witt