Rezension über:

Herman J. Selderhuis / Martin Leiner / Volker Leppin (Hgg.): Calvinismus in den Auseinandersetzungen des frühen konfessionellen Zeitalters (= Reformed Historical Theology; Vol. 23), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2013, 196 S., ISBN 978-3-525-55050-2, EUR 74,99
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Rezension von:
Christian Volkmar Witt
Bergische Universität, Wuppertal
Redaktionelle Betreuung:
Johannes Wischmeyer
Empfohlene Zitierweise:
Christian Volkmar Witt: Rezension von: Herman J. Selderhuis / Martin Leiner / Volker Leppin (Hgg.): Calvinismus in den Auseinandersetzungen des frühen konfessionellen Zeitalters , Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2013, in: sehepunkte 14 (2014), Nr. 2 [15.02.2014], URL: https://www.sehepunkte.de
/2014/02/24523.html


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Herman J. Selderhuis / Martin Leiner / Volker Leppin (Hgg.): Calvinismus in den Auseinandersetzungen des frühen konfessionellen Zeitalters

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Die Reformation sei - darauf habe das Calvin-Jahr 2009 hingewiesen - "international, ökumenisch, facettenreich - und mehr als nur ein Martin Luther mit Umfeld" (5). So lautet jedenfalls die Programmatik des hier anzuzeigenden Bandes, der auf eine Jenaer Tagung des genannten Jubiläumsjahres zurückgeht. Die 10 versammelten, im Folgenden nur exemplarisch besprochenen Beiträge bilden dabei ein (vielleicht zu) breites Spektrum der Auseinandersetzungen um den und mit dem Calvinismus ab - und zwar im 16. und 17. Jahrhundert, weshalb der Verweis des Bandtitels auf das "frühe[] konfessionelle[] Zeitalter" irritieren mag.

Eröffnet wird der Reigen durch eine gehaltvolle Studie Volker Leppins zum konfessionellen Grenzgänger Samuel Huber (9-19), den seine Prädestinationslehre nicht nur mit dem reformierten, sondern eben auch mit dem lutherischen Lager in Konflikt brachte (10-13). Ebenso komprimiert wie gekonnt zeichnet Leppin die theologischen Gründe für die Auseinandersetzungen nach (13-15), wobei die theologiegeschichtliche Kontextualisierung den Höhepunkt der Studie markiert (15-19). So hält Leppin mit Blick auf die individuelle Ebene fest, dass in der Beschäftigung mit theologischen Individualisten wie Huber "die Verpflichtung zur einfachen konfessionellen Zuordnung, die sich [aus?] unseren historischen Narrativen ergibt, [...] an ihre Grenzen stößt" (16). Anders stellt sich die Sache auf der überindividuell-konfessionellen Ebene dar: In ihrer Abgrenzung von Huber sahen sich die Theologen Tübingens und Wittenbergs genötigt, ihren dogmatischen Standpunkt bezüglich der Prädestination herauszustellen (17f.). Und so setzt der Streit theologisch produktive Impulse frei, die aus dem Gegeneinander der Kontrahenten resultieren und zu einer Profilierung des Konkordienluthertums führen, die sich letztlich auf die Auseinandersetzung mit den Reformierten auswirken sollte.

Die lutherische Wahrnehmung des Calvinismus steht dann auch im Mittelpunkt des erhellenden Beitrags von Irene Dingel, der die "Pia et fidelis admonitio" des Lutheraners Lucas Osiander von 1580 zum Gegenstand hat (50-65). Damit nimmt Dingel ein Phänomen in den Blick, das bisher in der kirchengeschichtlichen Forschung nur wenig Aufmerksamkeit erfahren hat: die lutherische "Irenik" des konfessionellen Zeitalters lange vor Calixt und seiner Schule. Sie weist mit ihrem reformierten Pendant einige strukturelle Gemeinsamkeiten auf, die Dingel zwar nicht komparativ nachzeichnet, die dem Kundigen aber sofort ins Auge springen (53f., 65). Neben den Gemeinsamkeiten sollten aber die Eigenheiten der Schrift Osianders nicht aus dem Blick geraten (56f.); doch trotz dieser Propria verfängt auch sein Programm nicht. Denn was sich aus der Perspektive Osianders als unpolemisches Friedensangebot liest, muss seinen Adressaten aufgrund ihrer Selbstwahrnehmung als schiere Polemik vorkommen (58, 62-65). Entsprechend kann von einem "Verzicht auf Polemik" (60) mitnichten gesprochen werden, denn ob etwas als polemisch wahrgenommen wird oder nicht, hängt eben, wie auch dieses Beispiel belegt, aufs Engste mit der Selbstwahrnehmung des Rezipienten zusammen.

Nicht nur, aber auch als theologiegeschichtliche Vertiefung dieser Einsicht und als dogmenhistorisches Parallelstück zum Beitrag Leppins lässt sich der Aufsatz von Walter Sparn lesen (127-150), der methodisch und inhaltlich als Glanzstück des Bandes zu stehen kommt. In einem mustergültigen systematischen Zugriff, der den ausgewiesenen Kenner der Theologiegeschichte des 17. Jahrhunderts verrät, zeichnet Sparn nach, von welchen Feldern auf welche Felder sich der theologische Dissens zwischen Lutheranern und Reformierten auch im Rahmen der lutherischen Bekenntnisbildung wie und warum verschiebt (132-141). Davon ausgehend, nimmt er die "Fixierung eines konfessionellen Fundamentaldissenses" (141) von Seiten des Luthertums bis ins 18. Jahrhundert hinein in den Blick (141-150), nicht zuletzt im kritischen Gespräch mit aktuelleren und viel diskutierten Forschungsansätzen wie der Konfessionalisierungsthese (147). Jener dogmatisch fixierte Fundamentaldissens bezog sich auf die "Prädestinationsproblematik" (150), die so zum eigentlichen innerprotestantischen Kampffeld wurde. Entsprechend exemplarisch und auf gedrängtem Raum gelingt Sparn insgesamt der Nachweis, dass die Übergänge zwischen Orthodoxie und Aufklärung fließend sind, obgleich sich schon im späten 17. und frühen 18. Jahrhundert Aufbrüche ausmachen lassen (149f.), die es sinnvoll erscheinen lassen, jene terminologische Differenzierung in der Theologiegeschichtsschreibung vorerst aufrecht zu erhalten.

Allerdings reichen nicht alle Aufsätze an das bisher aufgezeigte Niveau heran. Schon die Abzweckung des Beitrags von Martin Leiner beispielsweise, der sich mit einem theologischen Vergleich von Calvin und Melanchthon befasst (34-49), lässt aufhorchen: Denn nach Leiner ist der genannte Vergleich auch deshalb "reizvoll", weil er uns helfen kann, "manches an innerprotestantischer konfessioneller Polemik in seiner Tragik und Absurdität etwas näher zu erfassen" (34). Und so macht er sich in bemerkenswerter Nonchalance daran, die entsprechenden Einsichten nicht ganz unbedeutender Dogmenhistoriker wie R. Seeberg - dessen einschlägiges Lehrbuch übrigens "nicht in allen Passagen politisch korrekt" ist (38), also Achtung! - und Troeltsch wegzuwischen (36-39), und zwar mit dem Gefühl, nun "in einer neuen Periode der Forschung zu unserem Thema angelangt" zu sein (40). So schreitet er, von eventuellen methodischen Skrupeln völlig unbeirrt, mit Hilfe des EKD-Internetauftritts ausgewählte Lehrgegensätze zwischen den beiden genannten Reformatoren ab, ohne - nota bene - "den argumentativen Hintergrund und die Quellen im Detail zu erörtern" (41). Unter diesen Voraussetzungen überraschen den interessierten Leser weder Einsichten wie die, dass Calvin gar nicht Beza ist (41), noch das Ergebnis Leiners, dass es nämlich im Grunde keine irgendwie bedeutenden Lehrunterschiede oder gar -gegensätze zwischen Calvin und Melanchthon gibt (46-48). Dabei erhebt er den Zeigefinger - es sei ein "Fehler, Melanchthon und Calvin ganz von Luther aus zu verstehen" (48). An wen auch immer sich diese warnenden Worte richten, er wird sicher dankbar für sie sein.

Bezüglich ihrer unreflektiert wirkenden Positionalität nicht minder bemerkenswert ist die Studie von Herman Selderhuis zum Reformationsjubiläum 1617 (66-78). Ohne methodische Bedenken nimmt er die Haltung reformierter Kontroverstheologen des frühen 17. Jahrhunderts ein und bewertet von dieser argumentativen Basis aus die theologisch-dogmatischen Einsprüche ihrer lutherischen Zeitgenossen (68-71; 73); entsprechend unterbelichtet bleibt die bei allem versöhnlichen Ton scharfe Polemik, mit der das aus reformierter Sicht schlicht irrende Luthertum bedacht wurde (73). Zwar bleiben die in der reformierten Argumentation liegenden Spitzen nicht gänzlich unerwähnt (74f.), doch fehlt in der Urteilsbildung letztlich jede wünschenswerte historische Distanz, weshalb Selderhius bezeichnenderweise resümieren kann: "Von der lutherischen Seite sah man Luther fast als persönliches Eigentum an, und jede Kritik an ihm wurde mit einer Auseinandersetzung beantwortet und viel weniger mit inhaltlichen Argumenten in Luthers Sinn" (78).

Insgesamt drängt sich der Eindruck auf, dass die eingangs erwähnte Programmatik die hermeneutischen Voraussetzungen der ihr Zuarbeitenden beeinflusst, und zwar nicht zum Vorteil für die wissenschaftliche Erschließung eines unbedingt beachtenswerten und vielschichtigen Themenkomplexes. Die lesenswerten Beiträge hingegen unterliegen ihr kaum, ja lassen sie zugunsten der eigenen Qualität ganz aus dem Blick - und verdienen gerade deshalb Beachtung und weitergehende Diskussion.

Christian Volkmar Witt