Rezension über:

Ralf Konersmann: Die Unruhe der Welt, 3. Aufl., Frankfurt a.M.: S. Fischer 2015, 461 S., 12 s/w-Abb., ISBN 978-3-10-038300-6, EUR 24,99
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Rezension von:
Daniel Graña-Behrens
Frobenius-Institut, Frankfurt/M.
Redaktionelle Betreuung:
Andreas Fahrmeir
Empfohlene Zitierweise:
Daniel Graña-Behrens: Rezension von: Ralf Konersmann: Die Unruhe der Welt, 3. Aufl., Frankfurt a.M.: S. Fischer 2015, in: sehepunkte 16 (2016), Nr. 2 [15.02.2016], URL: https://www.sehepunkte.de
/2016/02/27732.html


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Ralf Konersmann: Die Unruhe der Welt

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Was ist die Unruhe, und wie ist sie in die Welt gekommen? Das sind die beiden beherrschenden Fragen des Buches "Die Unruhe der Welt" des Kieler Philosophen Ralf Konersmann. Damit greift er eine wichtige Begrifflichkeit für das Verständnis der Moderne auf, deren ideengeschichtliche Existenz in den vorangehenden Epochen bislang nur unzureichend nachgespürt wurde. Dafür gräbt sich der Autor tief in die Geschichte des Abendlandes ein, bis hinunter zum Sediment des biblischen Ursprungs. Denn seiner Ausgangsthese zufolge ist die Unruhe ein Identifikationsmerkmal westlicher Kultur, deren Ursprung weniger die Moderne als die biblische Geschichte selbst ist (42). Die Unruhe der Welt, die wir mit Veränderung und Innovation gleichsetzen und zur Normalität geworden ist, löste nicht erst heute den Stillstand als kulturellen Gegenentwurf ab, sondern hat ihre Wurzeln in der paradiesischen Vertreibung des Menschen, wie sie die Bibel beschreibt (43). Die Unruhe ist damit in seinen Augen keine rein "psychische und physiologische Ausstattung des Menschen" (22), sondern "ein Daseinsgefühl, eine Welt voller Phantasien, voller Verheißungen und Pläne." (7) Sie ist etwas kulturspezifisches, stofflich nicht fassbar, ein Gefühl, eine "Passion", die über das Individuelle hinausgeht und eigenen Regeln folgt. Sie ist "als historische Tatsache zu verstehen." (23). In Folge der biblischen Vertreibung aus dem Paradies werden durch die Unruhe Raum und Zeit zersplittert, das Wissen entmythifiziert und die Unruhe für den Menschen zur Antriebskraft der stetigen Veränderung. Sein Buch ist die Aufklärung dessen, was die Unruhe im Westen ausmacht.

Das Buch besteht aus einer Einleitung sowie zehn Kapiteln und einem Schlussteil. Die Kapitel, die im Einzelnen durch eine Jahreszahl und ein Lemma umrissen werden, sind keineswegs chronologisch angelegt, sondern verweisen auf Episoden der Ausformung der Unruhe und springen historisch gesehen umher. Sie selbst sind als Unruhe gedacht, mit der der Unruhe nachgegangen wird. Allerdings ist die so geratene Anordnung für den Leser keineswegs leicht verständlich. So ist die jeweilige Jahresangabe zu einem Kapitel und das Lemma nicht immer selbsterklärend. Beispielsweise heißt es für Kapitel 2 "1891: der Inquieteur" und Kapitel 3, "1724: Inquietät". Im ersten der beiden Kapitel bezieht sich der Begriff Inquieteur auf ein Kunstwort, welches von einem französischen Schriftsteller in seiner Dichtung genutzt wird, um die Unruhe auf die mythischen Wurzeln - die griechisch-römischen und alttestamentarischen - zurückführen (46, 62). Es ist der Gefolgsmann, der der Unruhe nachgeht (78). Im zweiten Fall ist mit Inquietät die kulturimmanente Weigerung gemeint, "die Dinge auf sich beruhen zu lassen." (40). Die Unruhe wurde trotz dieser Inquietät - so die weitere zentrale These - bislang nur in Form verschiedener Masken (Aktion, Veränderung, Bewegung, Wandel, Aufgebrachtheit, Zerstreuung, Stress und Burnout) erschlossen, jedoch nicht als Theorie, welche das Buch beansprucht zu werden (87).

Das Buch und der darin verwendete Satzbau ist keine leichte Kost. Inhaltlich schlägt das Buch eine Brücke von der Philosophie über die Kunst und Musik, Literatur bis hin zur Ethnologie. Es bedarf daher schon einiger Vorkenntnisse über die aus diesen Bereichen im Buch verarbeiteten Autoren wie René Descartes, Francisco Goya, Thomas Mann oder Claude Levi-Strauss, um nur einige wenige Vertreter in der Reihe der obigen Gebiete zu benennen, mit denen der Autor Vordringen und Wandel der Unruhe in der europäischen Perzeption beschreibt. Durch sie versucht der Autor, der Unruhe in ihren einzelnen Facetten und Nuancen auf die Spur zu kommen. Die Unruhe hat somit, dem Autor folgend, Eingang in alle wesentlichen Bereiche der abendländischen Kultur gefunden, mal mehr, mal weniger explizit. Einen Überblick über die vielen Bereiche und Querverstrebungen, die der Autor im Rahmen der Unruhe als kulturimmanente Theorie Europas aufarbeitet, findet sich am Ende des Bandes im "Vokabular der Unruhe", einem neben dem Namens- eigens dafür vorbehaltenen Sachregister.

In die Kurzform gebracht ließe sich die Unruhe als Produkt der Vertreibung aus dem biblischen Paradies interpretieren. Zunächst nach Kains Flucht noch als Gottes Strafe, Fluch und Verdammnis geächtet, erhält die Unruhe ihre ersten Umrisse als Herausforderung an die neuen Lebensbedingungen (Ackerbau). Ab der frühen Neuzeit wird sie dann durch die Philosophen in das Gegenteil gekehrt, nämlich als Gabe und Möglichkeit nach Veränderung und Entwicklung (112, 124ff., 132f.). Die einst in Folge der Vertreibung aus dem Paradies gedeutete Mühsal wird positiv als Arbeit und Teil der Unruhe verkehrt, die Perspektiven eröffnet. Der "Impuls der Weltveränderung" gilt nicht mehr als Strafe, sondern als "Zeichen der Wiedergutmachung und des gottgefälligen Mittuns". Damit vollzieht der Mensch zugleich das "Gesetz der gottgeschaffenen Natur" und macht sich die Natur untertan (144). Die Unruhe wird Wirklichkeit; die Ruhe Unerreichbarkeit. Zum Dreh- und Angelpunkt dieser Wirklichkeit, in die der Umwertungsprozess mündet, wird dem englischen Philosophen Francis Bacon nach, die Wissenschaft. Sie wird zu einem "unabhängigen Kulturprojekt" (133). Zugleich wird der Mythos dadurch der Welt entrückt und als Unveränderlichkeit der Dinge, dem menschlichen Zu- und Eingriff entzogen (74). Ruhe und Mythos werden Gegenpol zu Unruhe und Wissenschaft (96). Nichtsdestotrotz gliedert die Geschichte den Mythos vom paradiesischen Erlebnis zunächst ein, um den Mythos anschließend sogleich als ein "nachträglich erstelltes Kulturpräparat" darzustellen (153). Die Selbsterkenntnis des Menschen, aber auch die Zufälligkeiten der Geschehnisse zu ergründen, liegen nun ausschließlich im Terrain der Unruhe. Aber diese Unruhe als Kulturmotor wurde "weder geplant noch gewählt", sondern "wir haben uns auf sie eingelassen" und sie zur Normalität gemacht (84). Gleichzeitig wurde dadurch, wie der Autor es am Beispiel des Meister Eckharts festmacht, die Ruhe am Beginn der Neuzeit bereits zum Sehnsuchtsort und die Klöster zum "Wiederherstellungsort der Ruhe" schlechthin (125).

Im Ergebnis wird die Unruhe in Ralf Konersmann Werk zu einer ideengeschichtlichen Welterklärung - freilich nur der Europäischen - der sich keiner entziehen kann und die mehr als alles andere die Moderne prägt. Ihre im Buch allzu markante Dinglichkeit wirkt indes sogleich wieder verschleiernd, mystifizierend und entfremdend. Als Normalität zeigt sich die Unruhe daher einleuchtender in ihren altbekannten Masken. Als historische und kulturelle Tatsache ist sie dank seinem Buch nun aber benannt und vorzeigbar.

Daniel Graña-Behrens