Jaromír Balcár: Panzer für Hitler - Traktoren für Stalin. Großunternehmen in Böhmen und Mähren 1938-1950, München: Oldenbourg 2014, 523 S., ISBN 978-3-486-71873-7, EUR 69,95
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Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.
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Die moderne Unternehmensgeschichte hat vergleichsweise spät Eingang in die Geschichtsschreibung zu den böhmischen Ländern gefunden. Erste Anstöße gab 2002 eine Studie Christoph Boyers [1], ihm folgt jetzt Jaromír Balcár mit einer breit angelegten und theoretisch anspruchsvollen Arbeit. Ihr Vorzug ist, dass Unternehmensgeschichte für Balcár nicht an den Fabriktoren endet. Mit den Konzepten der Neuen Institutionenökonomik und des corporate governance erweitert der Verfasser die unternehmensgeschichtliche Perspektive und verknüpft sie mit übergreifenden wirtschaftlichen, wirtschaftspolitischen und politischen Zusammenhängen. Ebenso wird das soziale Handlungsfeld des Betriebes nicht bloß als lokal beschränkter Austragungsort des Konflikts zwischen Kapital und Arbeit analysiert, sondern an die großflächigen Ausprägungen dieses Konflikts rückgebunden.
Die Untersuchung basiert auf der Analyse von drei Großunternehmen (Maschinenbauwerke ČKD Kolben-Daněk, Verein für chemische und metallurgische Produktion, Prager Eisen-Industrie-Gesellschaft AG), die im Protektorat Böhmen und Mähren einen gewichtigen Beitrag zur nationalsozialistischen Rüstungsproduktion leisteten, nach dem Krieg im Übergang zur Volksdemokratie nationalisiert wurden und - sieht man von der Prager Eisen-Industrie-Gesellschaft AG ab, die ihre Selbständigkeit verlor und im Nationalunternehmen Vereinigte Stahlwerke aufging - Pfeiler des industriellen "sozialistischen Aufbaus" bildeten. Leitende Gesichtspunkte der Analyse dieser drei Großunternehmen sind das Verhältnis von Staat und Industrie mit der zentralen Frage nach betrieblichen Handlungsspielräumen, die politischen, ideologischen und soziokulturellen Gründe des personellen Revirements im industriellen Management während und nach dem Krieg, Investitionen und unternehmerische Strategien im Spannungsfeld zwischen staatlich-dirigistischen und marktwirtschaftlichen Elementen, Wandel der Produktionsprofile und Absatzbeziehungen, Arbeitskräftelenkung, staatlich gelenkte Preis-, Lohn- und Sozialpolitik samt ihren sozialen Auswirkungen, Gewerkschaften, Arbeitskämpfe und Widerstandshandlungen.
Mit der Untersuchung des Wirkungszusammenhangs aller dieser Faktoren im Rahmen des corporate governance-Ansatzes schließt Balcár für den gewichtigeren Teil seiner Studie, das Protektorat Böhmen und Mähren, an die aktuelle Diskussion über den Charakter der NS-Wirtschaftsordnung an. In dieser Kontroverse, die vor allem zwischen Peter Hayes auf der einen, Christoph Buchheim und Jonas Scherner auf der anderen Seite geführt wird, neigt Balcár eher zur Sichtweise der Letzteren. Die Protektoratsindustrie als Teil des NS-Wirtschaftssystems erscheint ihm aufgrund ihrer "beachtlichen Handlungsspielräume" (457) als "gelenkte Marktwirtschaft" treffender charakterisiert als durch die Annahme hohen staatlichen Drucks auf die wirtschaftliche Entwicklung. Dies lege auch der Vergleich mit der tschechoslowakischen Volksdemokratie nahe, in der die Unternehmen vier Jahre nach der kommunistischen Machtübernahme mit der Eingliederung der Unternehmensfinanzen in den Staatshaushalt den letzten Rest ihrer noch verbliebenen Handlungsautonomie verloren.
Angesichts des Gewichts, das Balcár dem theoretischen Gerüst seiner Untersuchung beimisst, kann Kritik zwanglos auf dieser Ebene ansetzen. Zunächst ist es misslich, dass der corporate governance-Ansatz auf zwei aufeinanderfolgende Diktaturen appliziert wird, in denen diese Form der Unternehmensführung aufgrund übergeordneter staatlicher Interessen nur in eingeschränkter Form praktiziert werden konnte. Für die volksdemokratischen Verhältnisse läuft der Ansatz - wenn man den Prämissen des Verfassers folgt - aus mindestens zwei Gründen ins Leere: Die Handlungsautonomie der Unternehmen, der Balcár einen hohen Stellenwert zuschreibt, tendierte nach 1945 rasch gegen Null, und die unterschiedlichen Interessen von betrieblichem Leitungspersonal und Belegschaft lösten sich in einem volksdemokratischen "Gesamtinteresse" auf, in dem die Interessen des Kapitals nicht mehr vorkamen.
In dieser Begrenzung der Perspektive auf zwei autoritäre gesellschaftliche Formationen wird der an "normalen" Verhältnissen orientierte gesellschaftliche Begründungszusammenhang des Konzepts nicht deutlich. Dieser ist gerade in den letzten Jahren - soweit staatliche Stellen im öffentlichen Interesse für corporate governance im Sinne von good governance plädierten - stärker in den Blickpunkt gerückt: So konvergieren etwa die Bestimmungen des 2002 verabschiedeten Deutschen Corporate Governance Kodex in der Forderung nach "verantwortungsvoller Unternehmensführung und -kontrolle" und lassen mit dieser Formulierung erkennen, dass die Verfechter des corporate governance die Frage nach der gesellschaftlichen Akzeptanz kapitalistischer Unternehmensführung durchaus im Auge haben. Diese Frage erledigt Balcár damit, dass er dem Leser das Schreckensbild des Staatssozialismus mit seiner jede betriebliche Initiative erstickenden totalen Planwirtschaft vor Augen stellt. Die NS-Besatzungsherrschaft in Böhmen und Mähren habe indirekt erheblich zur Etablierung des Staatssozialismus beigetragen, indem sie die stabilen betrieblichen Arbeitermilieus der Zwischenkriegszeit zerschlagen und so "günstige Rahmenbedingungen für die spätere Machtübernahme" der Kommunistischen Partei geschaffen habe (447).
Sozialgeschichtliche Untersuchungen haben gezeigt, dass die böhmisch-mährische Arbeiterschaft trotz massiver Umschichtungen der Belegschaften der Betriebe in den Kriegsjahren ihre demokratischen Traditionen und vor allem ihr genossenschaftssozialistisches Programm aus der Zwischenkriegszeit bewahrte und sich noch unter den Bedingungen der NS-Okkupation auf dieser Grundlage in illegalen Betriebsräten zu organisieren begann. Mit der Übernahme des Produktionsapparates nach dem Kollaps der NS-Herrschaft standen die Betriebsräte vor der Aufgabe, ihr programmatisches Hauptziel - betriebliche Selbstverwaltung nach syndikalistischem Muster im Rahmen einer betriebsgewerkschaftlich eingefärbten sozialistischen Ordnung - gegen den Allmachtanspruch der Kommunistischen Partei durchzusetzen. Dass im Prager Frühling die mit dem Argument wirtschaftlicher Effizienz begründete Handlungsautonomie der Betriebe schrittweise wiederhergestellt wurde, wäre ohne den Druck der Betriebsrätebewegung nicht möglich gewesen.
Es ist insofern nur ein Tribut an den Zeitgeist, wenn der Verfasser den Kollaps der Besatzungsherrschaft und die Gründung der Volksdemokratie als unternehmensgeschichtliche Zeitenwende darstellt: Mit dem Ende des NS-Okkupationsregimes soll es mit effizienter Unternehmensführung überhaupt vorbei gewesen sein.
Wie die tschechoslowakische haben auch andere Arbeiterrevolten gegen den Staatssozialismus im östlichen Europa (etwa die in Ungarn 1956) ihren Protest gegen politischen Zentralismus mit der Forderung nach betrieblicher Autonomie als rationaler, effizienter und gegenüber der Gesellschaft "verantwortungsvoller" Grundlage des Wirtschaftssystems verbunden. Wer einen Beitrag zur "Integration des östlichen Europas in eine grenzüberschreitend konzipierte europäische Zeitgeschichte" leisten möchte (9), den Tatsachenblick aber nicht nur auf die Zäsuren der politischen Geschichte, sondern auch auf die langfristigen gesellschaftlichen Entwicklungen richtet, wird für die Unternehmensgeschichte dies nicht bestreiten: Neben Shareholder-Interessen gehört auch die Beseitigung kapitalistischer betrieblicher Leitungsstrukturen im Namen wirtschaftlicher Effektivität und sozialer Gerechtigkeit zur europäischen Geschichte.
Anmerkung:
[1] Christoph Boyer: Ökonomische Effizienz und "nationale Verhältnisse". Die Siemens-Tochter Elektrotechna in der Ersten Tschechoslowakischen Republik, in: Bohemia 43 (2002), 74-88.
Peter Heumos