Uta Fenske / Daniel Groth / Klaus-Michael Guse / Bärbel P. Kuhn (Hgg.): Kolonialismus und Dekolonisation in nationalen Geschichtskulturen und Erinnerungspolitiken in Europa, Frankfurt a.M. [u.a.]: Peter Lang 2015, 268 S., ISBN 978-3-631-66601-2, EUR 56,95
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Der hier zu besprechende Band ist das Ergebnis eines von der EU geförderten Projektes, Unterrichtsmodule zur Geschichte des Kolonialismus und der Dekolonisation in vergleichender Perspektive zu entwickeln. Beteiligt waren Projektpartner aus Belgien, Deutschland, Estland, Österreich, Polen, Schottland und der Schweiz, also Ländern, die je recht verschiedene koloniale Vergangenheiten aufweisen. Vor diesem Hintergrund wurde die Frage, inwiefern die Geschichte des Kolonialismus und der Dekolonisation ein gemeinsamer Referenzpunkt in Europa, ein "Europäischer Erinnerungsort" sein könne, diskutiert. Dabei handelt es sich um einen aktuell sehr relevanten Ansatz, der durch die Fragestellung und die Diskussion zur Bedeutung unterschiedlicher Deutungen und Theorien zum Kolonialismus im Hinblick auf historische Lernprozesse große Erwartungen weckt. Als ein Ergebnis halten Uta Fenske und Bärbel Kuhn in der Einleitung fest, dass bei aller Verschiedenheit der bisherigen Thematisierungen dieser Geschichte in aktuellen Schulbüchern weder das Prinzip der Multiperspektivität noch der Kontroversität überzeugend umgesetzt ist (16). Dies zu überwinden sollte also ein Anspruch der vorliegenden Unterrichtsmodule sein.
Das Buch beinhaltet 21 Unterrichtsmodule, die in vier Themenkomplexe gegliedert sind: Erstens finden sich in dem Band sechs Unterrichtsmodule zum Übersee-Kolonialismus (21-81), zweitens fünf Module zu innereuropäischen Hegemonien und Verflechtungen (85-141), drittens sechs Module zur Dekolonisation und Unabhängigkeitsbewegungen (145-212) und viertens vier Module zu Erinnerungskulturen und Erinnerungspolitiken (215-264).
Der erste Themenkomplex folgt eher klassischen Zuschnitten des Themengebietes Kolonialismus. Dies wird u.a. dadurch deutlich, dass mehreren Unterrichtsmodulen ein Schema zu Grunde gelegt wird, in dem Stadien der "Transformation Europas durch die Aneignung von Übersee" unterschieden werden (29). Auf Basis dieses Modells werden Unterrichtsmodule zur Geschichte der Kartoffel, des Kaffees und des Zuckers vorgestellt. Grundlage sind hier europäische Perspektiven auf die Geschichte des Kolonialismus, die aber zu einer Historisierung beitragen. Ebenfalls auf Basis europäischer Quellen verdeutlicht das Unterrichtsmodul zur Geschichte der "Schweizer Auswanderer im Brasilien des 19. Jahrhunderts" von Philipp Marti und Bernhard C. Schär die Vernetzungen der Schweiz in den Kolonialismus. Gerade dieses Unterrichtsmodul zeichnet sich durch eine geschickte Quellenauswahl und ein überzeugendes Passungsverhältnis von Fragestellung, Materialauswahl und Arbeitsaufträgen aus. Dies gilt leider nicht durchgängig: So sollen in einem Unterrichtsmodul von Susanne Popp und Miriam Hannig sechs Bilder in eine chronologische Reihenfolge gebracht werden, wobei vier der sechs Bilder mit Jahreszahlen datiert sind, nur die beiden aktuellsten Bilder sind undatiert, allerdings auch austauschbar. Eine Aufgabenstellung zum historischen Denken ist dies also nicht.
Eine gänzlich andere Perspektive auf die Geschichte des Kolonialismus wird im zweiten Themenkomplex deutlich, in dem diskutiert wird, inwiefern innereuropäische Hegemonien und Verflechtungen als Kolonialismus bezeichnet werden können. Damit werden die klassischen Pfade der Erzählung über den Kolonialismus verlassen, indem sich die Autorinnen und Autoren stark an postkolonialen Theorien orientieren. So werden beispielsweise in einem Modul von Klaus-Michael Guse u.a. Polenbilder des 18. und 19. Jahrhunderts in Deutschland thematisiert und gefragt, inwiefern diese als Voraussetzung kolonialer Herrschaftsbeziehungen verstanden werden können (97-105). In einem anderen Modul von Przemysław Damski und Katarzyna Czekaj-Kotynia (129-141) werden Interessenskonflikte zwischen Polen und Ukrainern in der Grenzregion "Kresy" thematisiert, ein Thema, das bis heute kontrovers diskutiert wird. Während im ersten hier skizzierten Modul Materialien aus dem späten 18. und dem 19. Jahrhundert verglichen werden sollen, so dass die Lernenden zum historischen Erzählen angeregt werden, wird im zweiten Modul der Schwerpunkt auf den Umgang mit multiperspektivischen Quellen gelegt. Solche Schwerpunktsetzungen auf einzelne Aspekte historischen Denkens überzeugen und zeigen auf kategorialer Ebene das Potential des vorliegenden Bandes. Sie hätten aber argumentativ deutlicher herausgearbeitet und in Aufgaben reflektiert werden können.
Der dritte Themenkomplex zur Geschichte der Dekolonisation und Unabhängigkeitsbewegung versammelt Unterrichtsmodule, die auf ein Thema aufmerksam machen, das vielfach in deutschsprachigen Schulbüchern kaum erwähnt wird. So werden beispielsweise in einem Modul von Karel Van Nieuwenhuyse und Idesbald Goddeeris die Reden des Belgischen Königs Baudouin I. und des ersten Premierministers des unabhängigen Kongo Patrice Lumumbas anlässlich der Unabhängigkeit des Kongo 1960 verglichen. Hier zeigt sich, wie unterschiedlich darin die Geschichte der Kolonialzeit erzählt wird, weil beide Protagonisten sehr verschieden historischen Sinn bilden. Insofern sind die Materialien gut gewählt. Zur Einordnung sind zwei Auszüge aus David Van Reybroucks berühmten Buch Kongo abgedruckt, so dass zwar auf der Quellenebene das Prinzip der Multiperspektivität berücksichtigt wird, nicht aber auf Darstellungsebene die Kontroversität. Zudem werden alle Materialien gleichermaßen als "Quelle" bezeichnet, ohne die erkenntnistheoretischen Unterschiede zwischen Quellen und Darstellungen zu berücksichtigen. Auch in den Aufgabenstellungen wird dies nicht berücksichtigt, so dass eine Reflexion der Materialien nicht angeregt wird. Dieses Monitum trifft auch auf eine ganze Reihe weiterer Unterrichtsmodule zu.
In weiteren Modulen dieses Kapitels werden etwa die Einwanderung nach Estland nach dem Zweiten Weltkrieg, Chamberlains Appeasement-Politik aus Sicht der britischen Kolonien oder die problematische Partnerschaft zwischen der Schweiz und Ruanda thematisiert. Damit wird die Aktualität und Brisanz der hier zusammengestellten Themen überaus deutlich.
Der vierte Themenkomplex zielt auf die Ebene der "postkolonialen Erinnerungskulturen" und damit auf die Art und Weise, wie die Geschichte des Kolonialismus und seiner Nachwirkungen in der Gesellschaft öffentlich verhandelt wird. Zwei Beispiele verdeutlichen diesen Ansatz: So werden in einem Modul von Karel Van Nieuwenhuyse und Idesbald Goddeeris Straßennamen und Denkmäler zum Kolonialismus in Belgien mit Denkmälern und Straßennamen und den Niederlanden und Deutschland verglichen, so dass staatliche Formen historischer Sinnbildung und deren Auseinandersetzung damit zum Thema werden. Zugleich wird ergänzend ein Hiphop-Text von Angélique Kaba angeführt, auch eine Minderheitenperspektive deutlich wird (231-243). Stärker die öffentliche Debatte thematisierend, wird in einem Modul von Philipp Marti und Bernhard C. Schär die Debatte um den Umgang mit rassistischen Deutungsmustern in Schweizer Comics zum Gegenstand historischer Lernprozesse (255-264). Diese Module sind stark reflexiv angelegt und zeigen sinnvolle Schwerpunktsetzungen.
Insgesamt ist dies ein wichtiges Buch, weil die Thematisierung unterschiedlicher Formen historischen Denkens an koloniale Erfahrungen ausgesprochen spannend, aktuell und vielfältig ist. Die einzelnen Module sind stark aus Diskursen über postkoloniale Theorien, der Verflechtungsgeschichte oder auch der "New Imperial History" gespeist und bieten damit einen Rahmen für sinnvolle Weiterentwicklungen historischer Lernmaterialien. Zugleich ist mit dieser Schwerpunktsetzung aber ein grundsätzliches Monitum verknüpft: Durch den Fokus auf die oben erwähnten Theorien werden Ansätze zum historischen Denken und Lernen vernachlässigt. Zwar wird in der Einleitung auf Konzepte wie "Geschichtsbewusstsein" und "Geschichtskultur" (11) pauschal hingewiesen, es findet sich auch in jedem Unterrichtsmodul ein Unterkapitel zu "Lernzielen und Kompetenzen", allerdings gibt es eine ganze Reihe an Modulen, die keinerlei Bezug zu Fähigkeiten historischen Denkens nehmen, sondern nur inhaltsbezogene Einsichten als Ziele formulieren, während andere sehr pauschal - und zueinander heterogen - auf Kompetenzen historischen Denkens verweisen, ohne dass dies argumentativ begründet wird. Diese mangelnde Reflexion zeigt sich in einer Reihe an Aufgabenstellungen oder auch im Umgang mit Materialien (Beispiele siehe oben). Hier wäre eine Weiterentwicklung zu begrüßen.
Trotz dieser Kritik zeigt dieser Band den Bedarf und das Potential der Thematisierung postkolonialer Perspektiven für historisches Lernen. Deutlich wird - wieder einmal - die Vielfalt kolonialer Erzählungen und Perspektiven, die in der Geschichtskultur vorkommen und deshalb Gegenstand der Reflexion im Geschichtsunterricht werden sollten. Somit ist dieses Buch auch ein erneuter Hinweis auf die Notwendigkeit, den nationalen Kanon historischer Themen im Geschichtsunterricht in posttraditionalen Gesellschaften zu überwinden.
Johannes Meyer-Hamme