Uta Fenske / Daniel Groth / Matthias Weipert (Hgg.): Grenzgang - Grenzgängerinnen - Grenzgänger. Historische Perspektiven. Festschrift für Bärbel P. Kuhn zum 60. Geburtstag, St. Ingbert: Röhrig Universitätsverlag 2017, 346 S., ISBN 978-3-86110-635-7, EUR 54,00
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Uta Fenske / Daniel Groth / Klaus-Michael Guse / Bärbel P. Kuhn (Hgg.): Kolonialismus und Dekolonisation in nationalen Geschichtskulturen und Erinnerungspolitiken in Europa, Frankfurt a.M. [u.a.]: Peter Lang 2015
Matthias Weipert: "Mehrung der Volkskraft". Die Debatte über Bevölkerung, Modernisierung und Nation 1890-1933, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2006
Bärbel Kuhn / Matthias Weipert (Hgg.): Region und außerschulische Lernorte im Geschichtsunterricht, St. Ingbert: Röhrig Universitätsverlag 2019
Festschriften entstehen unter ungünstigen Vorzeichen in dreierlei Hinsicht: Der Erscheinungstermin steht unerbittlich fest und kann nicht - wie das bei wissenschaftlichen Sammelbänden sonst häufig geschieht - Monat um Monat verschoben werden. Zudem stehen die Herausgeber unter dem Druck, aus den Gaben der auf ganz unterschiedlichen Feldern forschenden Gratulantinnen/Gratulanten eine nicht allzu sehr auseinanderfallende Zusammenschau zu bündeln. Reine Buchbindersynthesen kommen zu oft dabei heraus. Und nicht zuletzt soll natürlich auch das Interesse und Forschungsgebiet der Jubilarin/des Jubilars getroffen werden. Für die Herausgeberinnen und Herausgeber in jedem Falle eine Gratwanderung, um nicht zu sagen: Grenzerfahrung.
Der Ansatz der Siegener Geschichtsdidaktikerin Ute Fenske und Geschichtsdidaktiker Daniel Groth und Matthias Weipert ist sinnvoll gewählt: Über Grenzgängerinnen und Grenzgänger nachzudenken, passt zu Bärbel Kuhn, die selber zwischen Schule und Universität, zwischen Fachwissenschaft und Didaktik pendelt. Und für die "das Überschreiten von Grenzen [...] wesentlicher Gegenstand ihrer Forschungen" (15) ist.
Die Bedeutungsvielfalt der Begriffe 'Grenze' und 'Grenzüberschreitung' ist in den 24 Beiträgen, die mal mehr Analyse und Forschungsbericht, mal historische Miniaturen sind, zu besichtigen. Die etwas gezwungen wirkende Systematik von Themenblöcken will als Leitsystem jedoch nicht ganz verfangen. Gleich sieben Kategorien scheiden die Beiträge voneinander. Allerdings sind diese so allgemein gefasst (Biographie neben Gender neben Europa neben Kulturgeschichte und so fort), dass die zugeordneten Beiträge in jeweils mehrere Kategorien passen könnten.
Systematisierend wirkt eher das Verständnis des Grenzbegriffs in diesem Band. In den seltensten Fällen ist dieser als territoriale oder nationalstaatliche Abgrenzung gemeint, auch wenn viele Beiträge sich geographisch selbst verorten. Vielmehr liegt ihnen allen ein kulturwissenschaftliches Verständnis des Begriffs zugrunde, der in der Zusammenschau der Aufsätze seinen Facettenreichtum offenbart und einen Gewinn bei der Lektüre verspricht.
Eine der wichtigsten Funktionen von Grenzen ist es, das Eigene vom Fremden zu scheiden und so die Identitätsbildung ex negativo zu ermöglichen. Erfahrungen dieser Art machten Käthe Schirmacher, Maria Reese und Ruth Fischer, die Sabine Hering in anschaulichen Miniaturen als Politikerinnen der Weimarer Republik vorstellt. Alle drei entschieden sich an einem Punkt ihres Lebens für eine kategorische Wende: Schirmacher räumte liberale für völkische Positionen, Fischer und Reese kehrten radikal linken Ideen den Rücken. Grenzgängerin über politische Lagergrenzen hinweg zu sein, bedeutete aber gerade im Jahrhundert der Großideologien häufig, zur Outsiderin zu werden, mit existenziellen Konsequenzen, wie Hering zeigt.
Andererseits provozieren Grenzen durch ihre trennende Funktion auch die Beschäftigung mit dem Anderen. Dass Überschreitungen bereits nicht mehr vorhandener nationalstaatlicher Grenzen zu mentalen Grenzerfahrungen werden können, solange Grenzen in den Köpfen fortbestehen, zeigt der Beitrag von Lars Deile. Am Beispiel des Geschichtsdidaktikers Gerhard Schneider macht er deutlich, wie unvereinbar die Disziplinen Geschichtsdidaktik (West) und Geschichtsmethodik (Ost) unmittelbar nach der deutschen Wiedervereinigung nebeneinanderstanden. Grenzgänger wie Schneider suchten den Dialog, weil sie Grenzen als Begegnungsraum verstanden und als Aufforderung, sich darüber hinweg zu verständigen. Im vorgestellten Fall führten die ehemals ideologischen Grenzen allerdings nicht zum Austausch, sondern zur Flurbereinigung an den ostdeutschen Hochschulen.
Die Doppelfunktion von Grenzen - Scheidelinien, aber auch Begegnungsräume zu sein - wird im Aufsatz von Christine van Hoof exemplarisch. An der deutsch-französischen Grenze zeigt sich: Territoriale Grenzen werden verschoben und können so durchlässig werden, dass sie kaum noch wahrzunehmen sind. Ihr bloßes Vorhandensein und ihre Geschichte wirken jedoch in der Erinnerungskultur beider Seiten nach, wie van Hoof am Beispiel beiderseits der saarländisch-lothringischen Grenze platzierter Geocaches nahelegt.
Möglicherweise schwieriger zu überwinden als manche nationale Grenze heute, sind solche, die entlang zeitlich bedingter oder überzeitlicher Rollenbilder verlaufen. Claudia Ulbrich untersucht den Rollenwechsel der Schauspielerin Caroline Großmann, die sich selbst als Grenzgängerin zwischen öffentlichem Auftreten als Frau eines Theaterdirektors und privater Sphäre sah. Obwohl sie diese Grenzüberschreitung wie selbstverständlich vollzog, stellte sie die Grenze zwischen Geschlechtercharakteristika nicht in Frage. Hier ist das Potential der Beschäftigung mit Grenzen als Orten der Infragestellung erkennbar.
Ganz ähnlich ist dies im erfrischend und spannend zu lesenden Beitrag von Bianca Walther. Sie stellt die Afrikareisende Mary Kingsley vor, die Ende des 19. Jahrhunderts ebenso viele gesellschaftliche Konventionen überwand wie sie andere für unverrückbar erklärte. Als viktorianische Antifeministin kam sie nicht auf den Gedanken, Geschlechtergrenzen in Frage zu stellen. Und doch balancierte sie den "Widerspruch zwischen bürgerlichen Weiblichkeitskonventionen und ihren maskulin konnotierten Ambitionen" (110) als Naturforscherin und autodidaktische Ethnologin aus. Die Vielzahl an Grenzen, auf die Mary Kingsley in ihrem Leben stieß, ermöglichte ihr Perspektiven, die quer zu denen vieler Zeitgenossen verliefen. Sie alle zu überwinden, kam für sie nicht in Frage, auch weil Abgrenzung Halt gibt und der Selbstvergewisserung dient.
Derart über die unterschiedlichen Bedeutungen von Grenzen und Grenzüberschreitung nachzudenken, gelingt bei der Lektüre der ganz unterschiedlichen Beiträge häufig. Das Konzept der Herausgeberinnen und Herausgeber geht insofern auf. Manches Mal erfordert es allerdings einige Mühe, das verbindende Element zu erkennen. So zeigt sich zwar die Vielseitigkeit der Metapher 'Grenze' aber auch, dass 'Grenze' als Analysekategorie nicht zwangsläufig als interdisziplinäre Kohäsionskraft wirkt.
Vielleicht ist dieser Anspruch einer Festschrift gegenüber aber auch nicht angebracht. Zweifellos jedenfalls wird der Leser bei der Lektüre selbst zum Grenzgänger, dem sich viele Einsichten offenbaren, dem sich auf dem Weg in manchem Beitrag Lektürefrüchte bieten, der allerdings bisweilen ermüdet verschnaufen muss.
Nicht unerwähnt bleiben kann ein sicherlich auch aus Herausgebersicht ärgerlicher Schnitzer, entstanden im Zwischenraum von Lektorat, Satz und Druckvorstufe. Etwa zwei Drittel des Buches sind durchgängig falsch paginiert, wie ein Abgleich von Inhaltsverzeichnis und Beiträgen auf den ersten Blick zeigt. Das beginnt bereits bei der Einleitung auf Seite 9 und endet erst auf Seite 240 - bei einem stolzen Preis von 54 Euro und sicherlich entsprechenden Herstellungskosten ist das unglücklich.
Benedikt Einert