Paul Nolte: Hans-Ulrich Wehler. Historiker und Zeitgenosse, München: C.H.Beck 2015, 208 S., ISBN 978-3-406-68294-0, EUR 19,95
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Das Unternehmen ist nicht ohne Tücken. Wenn ein Wissenschaftler seinen akademischen Lehrer nur ein Jahr nach dessen Tod zum Gegenstand einer eigenen Monografie macht, liegt die Versuchung ehrfürchtiger Überhöhung nicht fern, zumal wenn die Schrift im Hausverlag des Verstorbenen erscheint. Andererseits legt das Distinktionsbedürfnis akademischer Generationen dem Schüler nahe, sich vom Meister abzuheben und zu zeigen, wo die Jüngeren über die Älteren hinausgehen. Paul Nolte meistert in seiner bei C.H. Beck erschienenen Würdigung Hans-Ulrich Wehlers die Gratwanderung zwischen Hagiografie und Bildersturm mit einer souveränen Mischung aus ehrlicher Bewunderung, kritischer Distanz und dem Bemühen um eine historisierende Einordnung.
Er beschreibt seinen Lehrmeister ohne Scheu vor großen Worten als den "einflussreichste(n) Historiker der Bundesrepublik und vielleicht des gesamten 20. Jahrhunderts in Deutschland", als "streitbaren öffentlichen Intellektuellen", geschickten Netzwerker und machtbewussten "Institutionenbildner" (9). Das Lebenswerk findet sich am Ende des Bandes säuberlich aufgelistet: 19 Monografien, 13 Aufsatzbände und an die 20 Herausgeberschaften, darunter vier von Wehler begründete, zum Teil wegweisende wissenschaftliche Reihen sowie mit "Geschichte und Gesellschaft" eine der bedeutendsten Fachzeitschriften der historischen Zunft in Deutschland. Dieser eindrucksvolle Katalog spiegelt wider, was Wehler wichtig war und woraus er Nolte zufolge Selbstbestätigung und innere Befriedigung schöpfte: weniger der wissenschaftliche Austausch auf Konferenzen oder Symposien als das schriftliche Werk, zu dem auch die tagespolitischen Kommentare und scharfen, mitunter verletzenden Polemiken zählten, die seit Ende der 1980er-Jahre in insgesamt sieben Essaybänden versammelt wurden.
Nolte bringt Wehlers Karriere auf die Formel vom "Außenseiter über den Mainstreamer zum Individualisten" (153). Seine Bewunderung gilt dem akademischen Aufsteiger, der anders als einige seiner wissenschaftlichen Gefährten und Rivalen am Kölner Lehrstuhl Theodor Schieders (wie Thomas Nipperdey oder Wolfgang Mommsen) nicht aus einer Familie von Universitätslehrern stammte, sondern sich mit Ehrgeiz und Talent von außen in die Wissenschaftswelt hinein und im Universitätsbetrieb zielstrebig, aber nicht ohne Anstrengung nach oben bewegte: von einer Dissertation zur Nationalitätenpolitik der SPD im Kaiserreich über ein gescheitertes erstes und ein gegen Widerstände geglücktes zweites Habilitationsprojekt (das eine zum amerikanischen Imperialismus, das andere zum Imperialismus der Bismarckära) bis zur Professur an der frisch gegründeten Reformuniversität Bielefeld 1971. Nolte führt den unbändigen Leistungswillen, den der Calvinist und Mittelstreckenläufer Wehler dabei an den Tag legte, nicht nur auf die "Sublimierung eines militärischen oder sportlichen Leistungsprinzips" zurück, sondern vor allem auf eine "religiös motivierte Methodik der Lebensführung in Askese und Disziplinierung" (163).
Mit erkennbarer Sympathie zeichnet Nolte den Bielefelder Ordinarius, der mit dem Erfolg der Geschichte als historischer Sozialwissenschaft spätestens Anfang der 1980er-Jahre im Mainstream des Faches angekommen war bzw. dessen Mitte selbst neu (mit)definiert hatte. Sowohl in der Öffnung zu den Theorien der Sozialwissenschaften als auch im äußeren Habitus mit Turnschuhen und Rucksack hob sich Wehler bewusst von den Altvorderen ab. In anderer Hinsicht, so Nolte, schrieb er jedoch ältere Gelehrtentraditionen fort: mit seiner strengen Selbstdisziplin und Zeitökonomie ebenso wie mit einem "männerbündisch-patriarchalischen Einschlag" (163) in den akademischen Umgangsformen.
Auch im Festhalten an der monografischen Gesamtdarstellung deutscher Nationalgeschichte als Maßstab und Ausweis umfassender Gelehrsamkeit blieb er in überkommenen Bahnen, auch wenn die Nationalgeschichte (wenigstens bis 1945) nicht mehr in affirmativer, sondern in kritischer Absicht geschrieben wurde. Gegen den Vorwurf historiografischer Rückwärtsgewandtheit verteidigt Nolte seinen Lehrer mit der Prognose, dass "angesichts realer ökonomischer und kultureller Veränderungen seit dem späten 20. Jahrhundert, in denen Deutschland und die USA, oder Deutschland und Frankreich, sich eher unähnlicher als ähnlicher werden, [...] der Bedarf an Nationalgeschichten sich auch in den nächsten Jahrzehnten nicht erschöpfen" werde (160).
Kritischer sieht der Autor Wehlers Hang zur Polarisierung und zum Denken in Kategorien von Freund und Feind, zwischen denen es keine Grautöne oder Vermittlungen gab. Den Historikerstreit der 1980er-Jahre betrieb der Bielefelder Ordinarius wie kein zweiter im Stil persönlicher Abrechnung mit sachlich überzogenen und menschlich ungehörigen Attacken auf Kollegen, "deren Werke, Motivationen und auch politische Positionen rigoros über den Leisten eines nahezu verschwörungstheoretischen Szenarios geschlagen wurden" (106). Mit einer Einfühlsamkeit, die Nolte den Beweggründen, Argumenten und Verwundungen der Opfer von Wehlers Invektiven vorenthält, deutet er dessen Polemik als eine psychologisch verständliche Überreaktion nach kräftezehrenden Jahren intensiver Arbeit an den ersten beiden Bänden der deutschen Gesellschaftsgeschichte.
Grundsätzlicher fällt die Kritik an der barschen Zurückweisung der Kulturgeschichte durch Wehler aus. Anders als dieser versteht Nolte den Siegeszug der Sozialgeschichte Bielefelder Prägung nicht als Ersetzung eines hegemonialen Paradigmas (des "Historismus") durch ein anderes (die "Historische Sozialwissenschaft"), sondern als Auftakt zu einem theoretischen und methodischen Pluralismus, durch den die Geschichtswissenschaft "zu einer analytisch-selbstreflexiven Sozial- und Kulturwissenschaft mit unstillbarem Appetit auf Neues in der Theorie wie in den Themen" (165) geworden sei. Nolte baut Brücken von der Sozial- zur Kulturgeschichte, jedoch nicht zur Politikgeschichte. Dabei ließe sich durchaus fragen, ob nicht etwa der Bielefelder Sonderforschungsbereich 584 "Das Politische als Kommunikationsraum in der Geschichte" so etwas wie die verspätete Anerkennung von Eigengesetzlichkeiten der Politik darstellt, auf die Vertreter einer vermeintlich "traditionelleren" Geschichtswissenschaft seit jeher hingewiesen haben.
Ähnliches gilt für die Geschichte der internationalen Beziehungen, die eine auffällige Leerstelle in Noltes Buch wie in Wehlers Werk darstellen. Das hat nicht nur damit zu tun, dass Diplomatiegeschichte den Inbegriff dessen darstellte, was Wehler überwinden wollte: eine auf Staaten, Personen und Ereignisse konzentrierte Geschichte der vermeintlich "großen" Politik. Zudem begreift die Soziologie, die Wehler als Leitdisziplin diente, historische Entwicklung vornehmlich aus dem Innenleben menschlicher Gruppen heraus. Auf deren Außenkontakte zielen soziologische Analyseinstrumente kaum ab. Mit der Orientierung an der Gesellschaft als Fixstern lassen sich Binnenverhältnisse besser erklären als Außenbeziehungen. Insofern ist es kein Zufall, dass Wehler an seiner ebenso einflussreichen wie verfehlten Sozialimperialismusthese zur Erklärung deutscher Außenpolitik zwischen 1871 und 1918 auch dann noch festhielt, als er von anderen einseitigen Bewertungen des Kaiserreiches zugunsten einer differenzierteren Gesamtschau längst Abstand genommen hatte.
Paul Nolte beschreibt Hans-Ulrich Wehler anschaulich, elegant und überzeugend als bei allem Individualismus doch typischen Vertreter der 45er-Generation deutscher Geistes- und Sozialwissenschaftler. Diese war - von enormem Leistungswillen und Erfolgsstreben beseelt - wegen der Expansion des Hochschulwesens in den 1960er- und 1970er-Jahren früh auf Lehrstühle gelangt, hatte das Scheitern der Weimarer Republik und die Verbrechen des Nationalsozialismus als politisch-moralischen Auftrag zur Demokratisierung von Staat und Gesellschaft verstanden und prägte mit dieser "pädagogische(n) Mission" (121) ihre Disziplinen bis zur Schwelle des neuen Jahrtausends. Womöglich, so ist man versucht hinzuzufügen, gehörte auch die Privilegierung der Innenschau über die Außenkontakte zu dem, was Wehler als typischen Historiker der alten Bundesrepublik ausweist. Schließlich zeichnete sich deren Geschichte eher durch wirtschaftliche Dynamik, sozialen Wandel und kulturelle Umbrüche aus als durch außenpolitische Beweglichkeit in der festgefrorenen Staatenwelt des Kalten Krieges.
Dominik Geppert