Gerhard Weigt: Demokratie jetzt. Der schwierige Weg zur deutschen Einheit. Ein Zeitzeuge berichtet, Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2015, 515 S., zahlr. s/w-Abb., ISBN 978-3-374-04118-3, EUR 29,90
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Erneut hat ein Zeitzeuge und Akteur ein Buch über die Geschichte der DDR-Opposition vorgelegt. Der Physiker Gerhard Weigt gehörte 1989 zu den Gründungsmitgliedern der Bürgerbewegung Demokratie Jetzt und schildert nun gut 25 Jahre danach auf 400 Seiten detailliert, dicht und bisweilen außerordentlich spannend die Genese und das Wirken einer der wichtigsten Oppositionsgruppen des Umbruchs von 1989/90.
Zu Beginn stellt der Autor klar, dass er als Nicht-Historiker schreibt, deshalb auch keine im strengen Sinn wissenschaftliche Darstellung von ihm erwartet werden kann. Gleichwohl liegen der Studie neben privaten vor allem archivalische Quellen zugrunde. Er selbst nennt sein Verfahren eine "dokumentarische Beschreibung von Handlungen ausgewählter Akteure", die ein "repräsentatives Abbild der Lebenswirklichkeit" vor allem der Mitglieder der Opposition in der DDR zu bieten vermag (20f.).
Weigt beginnt seine Darstellung nach einleitenden "Betrachtungen zum geschichtlichen Umfeld" mit dem Jahr 1986 - da existierte bereits eine Kerngruppe von Demokratie Jetzt, der er selbst noch nicht angehörte, er stieß erst 1989 hinzu - und endet mit dem Frühjahr 1990. Die Ursprünge von Demokratie Jetzt liegen in der kirchlichen Friedensbewegung der DDR, die lange Zeit auch ihr Wirkungskreis blieb. Der Autor hebt in diesem Zusammenhang hervor, welche Bedeutung gerade die Aktivitäten im Rahmen der Aktion Sühnezeichen (DDR) in Polen sowie die Bekanntschaft mit polnischen Oppositionellen für einzelne Mitglieder in der Frühphase der Gruppe hatten.
Mit dem Antrag "Absage an Praxis und Prinzip der Abgrenzung" auf der Synode der evangelischen Kirche von Berlin-Brandenburg im März 1987 traten die späteren Gründungsmitglieder von Demokratie Jetzt Stephan Bickhardt, Reinhard Lampe, Hans-Jürgen Fischbeck und Ludwig Mehlhorn erstmals mit der Forderung nach Öffnung der DDR-Gesellschaft an die Öffentlichkeit. Dieser Antrag war der "Keim" ihrer "beginnenden Oppositionstätigkeit" (122). Weitere Etappen waren die Bildung des gleichnamigen Initiativkreises im Mai 1987 sowie der Aufruf "Neues Handeln" an Pfingsten 1988. In Weigts Darstellung wird deutlich, wie sich die Initiative im Lauf der Entwicklung von der Kirche emanzipierte, weil ihr der politische Einfluss zu gering war.
Am 12. September 1989 schließlich veröffentlichten zwölf Mitglieder den "Aufruf zur Einmischung in eigener Sache" zusammen mit "Thesen für eine demokratische Umgestaltung in der DDR", das Gründungsdokument der "Bürgerbewegung Demokratie Jetzt". Ziel war eine solidarische Gesellschaft, Rechtstaatlichkeit und die Demokratisierung aller Lebensbereiche bei Weiterführung der sozialistischen Entwicklung. "Beide deutsche Staaten sollten um der Einheit willen aufeinander zu reformieren" (472). Weigt weist darauf hin, dass sich Demokratie Jetzt von diesem Zeitpunkt an als "Sammlungsbewegung mit politischem Anspruch" (275) begriff. Dieses Selbstverständnis als Bürgerbewegung und ausdrücklich nicht als Partei blieb für ihre weitere Arbeit bestimmend.
Die Bilanz ihrer Arbeit ist für Weigt jedoch enttäuschend. Er übt Kritik an der Missachtung der DDR-Opposition durch westdeutsche Politiker, beschreibt aber ebenso das Unvermögen dieser Opposition, sich zu gemeinsamen Aktionen durchzuringen und alte Rivalitäten zu vergessen, was ihre Arbeit unnötig erschwerte. Die Teilnahme von Ulrike Poppe, Hans-Jürgen Fischbeck, Konrad Weiß und Wolfgang Ullmann als Vertreter von Demokratie Jetzt am Zentralen Runden Tisch und später die Entsendung von Wolfgang Ullmann als Minister ohne Geschäftsbereich in das Kabinett Modrow schließlich war für den Autor weniger Teilhabe an der Macht, sondern bereits Vorbote von Bedeutungsverlust und Niedergang der Opposition. Auch die Arbeit in der 10. Volkskammer, für das Demokratie Jetzt zusammen mit dem Neuen Forum und der Initiative Frieden und Menschenrechte ein Wahlbündnis gebildet hatte und in der es Mitglied der Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen war, änderte daran nichts. An dem "großen Endspiel ostdeutscher Demokratie" waren die Oppositionsgruppen nicht mehr maßgeblich beteiligt (383). Weigts Meinung nach wurden das Erbe der Friedlichen Revolution verdrängt und "bemerkenswerte politische Chancen" (389) auch dadurch vergeben, dass die Regierung de Maizière "mit geradezu gegenrevolutionärem Impetus" (ebd.) darauf verzichtete, in der 10. Volkskammer den Verfassungsentwurf des Zentralen Runden Tisches behandeln zu lassen. An dieser Stelle wird Weigts persönliche Beteiligung am Geschehen am deutlichsten, war er doch Mitautor des Entwurfs, für ihn das genuine Erbe der Träger der Friedlichen Revolution.
Das Buch schließt mit knapp achtzig Seiten Anhang. Hier finden sich 31 Dokumente (u.a. zentrale Texte wie der Gründungsaufruf von Demokratie Jetzt, Ausschnitte aus Stasiakten oder Briefe) sowie kurze Biogramme der 14 Gründungsmitglieder.
Zwei kritische Anmerkungen zur Anlage des Buches: Die dem eigentlichen Thema vorgeschalteten "Betrachtungen zum geschichtlichen Umfeld", die vor allem denjenigen Lesern als Information dienen sollen, die das realsozialistische System nicht selbst erlebt hatten, sind, ungeachtet der guten Absicht, zu umfangreich geraten. Für das Verständnis der Genese einer Oppositionsgruppe in der DDR ist es nicht nötig, die Geschichte der KPD oder des stalinistischen Systems zu schildern. Das bläht das Buch unnötig auf, man hätte das prägnanter und kürzer halten können. Es ist außerdem - das ist der zweite Kritikpunkt - ebenso umständlich wie unübersichtlich, den Anmerkungsapparat zu teilen: in Literatur- und Quellenangaben als Endnoten sowie Anmerkungen zur Vertiefung des Textes als Fußnoten, zumal diese letzteren oft nur Lexikonwissen wiedergeben, wie zum Beispiel die Erklärung zum Eisernen Vorhang. Auch hier wäre eine Beschränkung besser gewesen. Doch das tut der gesamten Darstellung keinen Abbruch. Weigt hat ein ebenso persönliches wie informatives Buch über einen der zentralen Protagonisten der DDR-Opposition verfasst.
Bettina Tüffers