Micha Brumlik: Wann, wenn nicht jetzt? Versuch über die Gegenwart des Judentums (= Relationen - Essays zur Gegenwart; 3), Berlin: Neofelis Verlag 2015, 130 S., ISBN 978-3-95808-032-4, EUR 10,00
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Bereits der Titel des Buches setzt Kenntnisse des jüdischen Denkens voraus, denn "Wann, wenn nicht jetzt!" ist ein Mischna-Spruch des berühmten Rabbi Hillel (Traktat Avot 1, 14). Hillel, der im ersten Jahrhundert v. Chr. lebte, war für seine tolerante und humane Weltanschauung bekannt. Mit diesem Satz meinte er, dass die Umsetzung einer guten Absicht in Taten nicht ad calendas graecas vertagt werden darf. Wenn es um die Lösung des Nahost-Konflikts geht, scheint dieser Vorschlag besonders relevant zu sein - denn bislang haben die Hauptakteure sich darum bemüht, die Lösung auf die lange Bank zu schieben.
Der Versuch Micha Brumliks über die Gegenwart des Judentums (so der Untertitel) befasst sich mit einer Vielfalt von Problemen des Judentums im 21. Jahrhundert, die ineinander verzahnt sind: Die Krise der Beziehung zwischen Israel und der Diaspora, die Beziehung zwischen dem Land Israel und dem Zionismus, zwischen Zionismus und Messianismus, zwischen Nationalismus und Liberalismus und zwischen Deutschland und Israel nach der Shoah. Das alles auf nur 120 Seiten zu behandeln, ist wahrlich keine leichte Aufgabe.
Die Grundthese Brumliks im ersten, ausführlichsten Kapitel über die Beziehung zwischen beiden Hälften des Judentums - Israel und der Diaspora - lautet: Es "ist für die nahe Zukunft mit einer wachsenden Entfremdung zwischen dem jüdischen Israel und der jüdischen Diaspora [...] zu rechnen" (15). Dabei geht es nicht nur um die liberale amerikanisch-jüdische Diaspora, sondern explizit auch um die immerfort wachsende deutsche Diaspora. Mit der letztgenannten Diaspora befasst sich der Autor im letzten, siebten, sehr persönlichen Kapitel. Die altneue Frage lautet: "Was es heißen kann, als Jude nach dem Holocaust in Deutschland zu leben?" (120) und die eindeutige Antwort: Deutsch sind all jene, die sich den Grundprinzipien des Grundgesetzes verpflichtet sehen, also kann ein Jude wie Brumlik "Verfassungspatriot" sein. Dabei ignoriert er weder die Gegenwart des Antisemitismus noch die Bedrohung des jüdischen Staates durch den Iran, weiß aber Bescheid, dass Netanjahus Politik auch die deutschen Juden zu Geiseln der israelischen Politik macht und dass Israel den Einfluss dieser Politik auf den Antizionismus nicht wahrhaben will.
Am Anfang von Brumliks Überlegungen steht selbstverständlich die alte Frage: was ist Judentum überhaupt? Netanjahus Idee, Israel formal als "Staat des jüdischen Volkes" (genauer übersetzt: "Nationalstaat des jüdischen Volkes") anzuerkennen, und zwar in Form einer "Ethnokratie", macht die Entfremdung zwischen dem "Judenstaat" und der Diaspora, so Brumlik, unausweichlich; die Diaspora-Juden, die an die universalen Werte des Judentums glauben, würden sich zunehmend von diesem israelischen Zionismus abwenden. Die Kluft zwischen der Auffassung von Judentum (und vom jüdischen Staat) bei Rav (Rabbi) Ovadia Joseph und seinen ultraorthodoxen Anhängern in Israel einerseits und Rabbiner Waldock und dem liberalen jüdischen Lager in Amerika anderseits sei enorm. Netanjahus Versuch, eine jüdische Einheit nach den Vorstellungen von Rav Ovadia auf Kosten der historischen Vielfalt im Judentum - als Volk, Nation, Ethnie, Kultur, Lebensweise und Religion (32) - aufzuzwingen, wird das Judentum spalten und zerreißen, behauptet Brumlik zurecht. Wobei man sich wundert, wie Netanjahu, der in Amerika aufgewachsen ist, in diese Falle tappen konnte.
Die nächste, für die Definition des Judentums entscheidende Frage ist die im zweiten Kapitel behandelte Beziehung zwischen Judentum und dem Land Israel. Hier zeigt Brumlik, dass die von Israel vertretene Vorstellung vom absoluten, nationalen Primat des Heiligen Landes ("Ganz Israel") im Widerspruch zur traditionellen rabbinischen, religiösen Haltung steht (46), die jedoch mit Hilfe der messianischen Elemente im Zionismus überwunden werden konnte. Um das Verhältnis von Zionismus und Messianismus geht es also im dritten Kapitel. Hier erklärt Brumlik, wie der Fundamentalismus in den Zionismus hineinkam und wer diese heute so einflussreich gewordenen Fundamentalisten sind. Das interessante Ergebnis: zwar sind die politisch aktiven Leute wie Moshe Lewinger (Gründer der jüdischen Siedlung in Hebron), Baruch Goldstein (Mörder von 29 betenden Moslems in Hebron im Jahr 1994) und Igal Amir (Itzhak Rabins Mörder) erwähnt, aber im Mittelpunkt der Ausführungen Brumliks steht die Lehre des Rabbi Avraham Kook, Oberrabiner im Mandatsgebiet Palästina, der die Brücke zwischen der alten jüdischen Religion und dem neuen nicht-religiösen Zionismus geschlagen hatte indem er den Zionismus als "Beginn der [religiösen] Erlösung" bezeichnete (53, 61) und dazu daran glaubte, dass "Israel als Volk seiner göttlichen [...] Verpflichtung einzig und allein im Land Israel nachkommen kann" (60). Die Dialektik des Siedler-Fundamentalismus führte dann aber dazu, dass die Siedler, die treuesten Anhänger von Rabbi Avraham Kook und seinem Sohn Rabbi Zvi Yehuda Kook, im Prinzip die "Auflösung des modernen, zionistischen Staates Israel" anstreben (67), um ihn durch ein "Ganz Israel" zu ersetzen. Die Mixtur ist aber noch komplexer, denn noch immer spielt Zeev Vladimir Jabotinski, der liberale Nationalist und Vater der Likud-Ideologie, eine Rolle, quasi als Gegenpol zum religiösen Fundamentalismus mit Alibi-Funktion.
Selbstverständlich musste Brumlik auch zur Beziehung von Juden zu Deutschland nach der Shoah Stellung nehmen (76-93). Im Endeffekt ging es ihm dabei um die sogenannte "bedingungslose Solidarität" mit Israel, um eine Auseinandersetzung mit linken Intellektuellen in Deutschland und schließlich um den Status der jüdischen Studien an deutschen Universitäten. Den Kern der Sache fasst er in einem Satz zusammen, der auch als Ausgangspunkt für das vorletzte Kapitel dient: Brumlik ist einem religiösen Verständnis von Judentum verpflichtet, hält wegen der Globalisierung den Gedanken des Nationalstaates objektiv für überholt und schließt daraus, dass auch der jüdische Nationalstaat nicht mehr zeitgemäß sei. Sein "Plan B" für Israel geht jenseits der Zweistaatenlösung in Richtung von Martin Bubers Vision eines bi-nationalen Staates. Dabei bezieht sich Brumlik auf die Vorschläge, die der Historiker Michael Wolffsohn unterbreitet hat.
Brumlik jedenfalls wird nicht vor Ort (i.e. in Israel/Palästina) sein, um an der Umsetzung seines Plans B persönlich mitzuwirken. Er bleibt als Jude und Intellektueller in Deutschland. Seine Zugehörigkeit begründet er auf der Basis der Kultur. Zum Schluss zitiert er Fontanes bekannte Hommage an die Juden ("An meinen Fünfundsiebzigsten") - das mit folgenden Worten endet: "kommen Sie, Cohn!". Der passende Schlusssatz für die Rezension des Buches ist ein Zitat aus dem Midrasch (Breshit Raba 5, 7) - auf Hebräisch: "M'at ha'machsik et ha'mrube"; auf Deutsch: "Bescheidener Umfang und doch inhaltsreich".
Moshe Zimmermann