Irene Meissner: Sep Ruf 1908-1982. Leben und Werk, Berlin: Deutscher Kunstverlag 2013, 512 S., zahlr. Farb-, s/w-Abb., ISBN 978-3-422-07192-6, EUR 49,90
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Sep Ruf ist sicher neben Hans Scharoun und Egon Eiermann einer der wichtigsten Architekten der deutschen Nachkriegsmoderne. Durch den viel beachteten, gemeinsam mit Eiermann entworfenen Deutschen Pavillon für die Weltausstellung in Brüssel (1958) und den Bonner Kanzlerbungalow (1963-64) hat Ruf auch international das Bild der jungen Bundesrepublik als eines demokratischen und weltoffenen Landes maßgeblich geprägt. Bereits 1971 rühmt Nikolaus Pevsner eine für die Architektur der deutschen Nachkriegsmoderne bemerkenswerte Ausnahmeerscheinung [1]: Rufs sensible Verbindung von alter Bausubstanz mit modernem Neubau bei der Münchener Neuen Maxburg (Justizgebäude am Lenbachplatz, 1952-58, gemeinsam mit Theo Pabst). Diese treffende Beobachtung zieht sich wie ein Grundprinzip durch Rufs gesamtes Werk, wie Irene Meissner in ihrer lesenswerten Monografie jetzt aufzeigt.
Dass sein Werk trotzdem lange nicht ausreichend gewürdigt worden ist, liegt maßgeblich darin begründet, dass Rufs Nachlass zu großen Teilen 30 Jahre lang nicht zugänglich und daher wissenschaftlich nicht erschlossen war. Hans Wichmanns erste Monografie [2] anlässlich der posthumen Ausstellung 1985 nennt lediglich 153 Projekte, verzichtet aber auf eine Werkanalyse sowie eine architekturhistorische Einordnung. Eine umfassende wissenschaftliche Würdigung beginnt erst mit der großen Ausstellung im Münchener Architekturmuseum im Jahr 2008 [3], die Meissner gemeinsam mit Winfried Nerdinger konzipiert hat. Für ihr Buch (zugleich ihre Dissertation 2012 an der TU München) hat sie den in der Familie befindlichen umfangreichen Nachlass aufarbeiten dürfen. Als Ergebnis und auch dank ihrer Forschungen für den Katalog der Münchener Ruf-Ausstellung [4] kann sie das nun vorgelegte Werkverzeichnis gegenüber der 2008 publizierten Liste um weitere 59 Arbeiten auf nunmehr 307 Bauten und Projekte ergänzen. Die Publikation gliedert sich folglich in einen umfangreichen biografischen Teil, in dem seine wichtigen Bauten im Zusammenhang erläutert werden, und den Werkkatalog.
Bereits die bemerkenswerte Zeitspanne seines Werkkatalogs von 1930 bis 1982 lässt erkennen, dass Rufs Werk nicht bruchlos war. Wie ihm bereits als Student 1930 dank zahlreicher Privataufträge in einer wirtschaftlich sehr bewegten, fast aussichtslosen Zeit ein so bemerkenswerter Karrierestart gelang, dass er zeitweise zwei Architekturbüros in München unterhielt, von den Nationalsozialisten mit Projekten für die Rüstungsindustrie beauftragt wurde, ohne sich ihnen anzudienen, und schon während der alliierten Besatzungszeit wieder zu einem der meistbeschäftigten Münchner Architekten wurde, das alles beschreibt Meissner anschaulich.
Bereits sein Wohnhaus für Karl Schwend (1931, 1933/34, abgerissen 1988) zeigt Rufs Grundprinzipien: den Bezug zum Kontext, die Gliederung in ein bauliches Ensemble und seinen Dialog der Formensprache des Neuen Bauens mit traditionellen Architekturformen. Seine quadratischen, bis heute gut bewohnbaren Münchener Kleinhäuser auf nur 50 qm Grundfläche (1931-33, gemeinsam mit seinem Bruder Franz Ruf) im Rahmen des Wettbewerbs "Das billige kleine Haus" wurden bereits 1932 in mehreren Ausstellungen und in Heften des "Baumeister" publiziert und verschafften ihm vermutlich weitere Aufträge: Zwischen 1931 und 1939 errichtete Ruf 68 Einfamilienhäuser. Ihnen sind gut durchdachte Grundrisse gemein, die Verkehrsflächen vermeiden, und das Satteldach als Tribut an die neue Doktrin, die Ruf geschickt durch Asymmetrien, Langfenster oder über Eck laufende Balkone konterkariert. Dass die Jugendsiedlung "Friedensdorf" 1948 auf dem Nürnberger Märzfeld dann einen architektonischen Bruch mit der NS-Zeit dokumentiert (101), bleibt hingegen eine Behauptung, deren Begründung Meissner schuldig bleibt.
Die vom Stadtbaurat vorgegebene "gemäßigte Wiederherstellung der alten Stadtgestalt" Nürnbergs nach den massiven Zerstörungen des 2. Weltkriegs, inspiriert Ruf zu den für Architektur im historischen Kontext bis heute wegweisenden Entwürfen der Bayerischen Staatsbank (1951) und der Akademie der Bildenden Künste, Nürnberg (1950-54). Hier profitiert Meissner von ihrer gründlichen Arbeit mit Rufs Nachlass und kann die komplexe Entwurfsgenese detailliert darstellen. Die Grundlinien des Entwurfs der Akademie als einer Folge von Pavillons, die durch verglaste Gänge so miteinander verbunden sind, dass sich Architektur und Natur scheinbar durchdringen, weist bereits auf Rufs drittes Bauprinzip hin: die Transparenz nach außen. Das Prinzip der asymmetrisch angeordneten, eingeschossigen gläsernen Pavillons zieht als Entwurfsidee eine verbindende Linie von der Nürnberger Akademie über den Brüsseler Weltausstellungspavillon zum Kanzlerbungalow und prägte auch im Ausland das Bild der Bonner Republik als einer ostentativ bescheidenen, zugleich offenen demokratischen Gesellschaft und schuf einen plastischen Gegensatz zu den steinernen monumentalen Repräsentationsbauten des sog. "Dritten Reichs".
Wohnungsbau bleibt auch nach dem sog. "Dritten Reich" ein Kernanliegen Rufs. Dass dabei auch sozialer Wohnungsbau herausragende architektonische Qualität besitzen kann, hat er wiederholt kongenial bewiesen, etwa mit den Wohnanlagen am Habsburger Platz in Schwabing (1951-54) und der Theresienstraße (1950-52). Eine eigene Monografie wert wären die zahlreichen privaten Wohnhäuser, mit denen Ruf seine Vorstellungen modernen Wohnens auslotete.
Noch zu entdecken gilt Rufs Beitrag zum Kirchenbau der Nachkriegszeit; den hohen Stellenwert dieser Bauaufgabe in seinem Werk würdigt Meissner eingehend. Gerade für das Verständnis sakraler Räume, die anschaulich bebildert sind, sind allerdings Grundrisse unverzichtbar. Schade ist daher, dass Meissner nur einen einzigen Grundriss veröffentlicht. Die Polarisierung, die sein Kanzlerbungalow auslöste, ist heute nur schwer nachvollziehbar. In dem Kapitel über Rufs Bauten für den Bund gehen endlich Grundrisse, Beschreibungen und Fotografien Hand in Hand.
Bereits bei seinem Auftrag für das Germanische Nationalmuseum (1953-76), für das Ruf keinen reinen Neubau, sondern einen Weiterbau mit Einschluss historischer Bausubstanz und alter Bauabschnitte konzipierte, war Ruf mit Hans Christoph von Tucher in Kontakt gekommen, der 1963 als Vorstandssprecher der Bayerischen Vereinsbank Ruf mit dessen letztem Großprojekt beauftragte (Bayerische Vereinsbank im Tucherpark, 1963-85). Anschaulich rekonstruiert Meissner, wie Ruf und Tucher hierfür auf Einladung der Bank und in größerer Runde 1963 einen Monat lang durch die USA reisten, um dort die amerikanischen Banken- und Geschäftsneubauten zu studieren und Mies van der Rohe zu treffen (329). Aufschlussreich wäre hier eine vertiefte Auseinandersetzung mit der These gewesen, dass Rufs Spätwerk Züge jenes Modernismus zeigt, vor dem er einst selbst gewarnt hatte. [5]
Dass im Textteil leider Hinweise auf die Abbildungen fehlen, mindert mitunter Meissners Schärfe der Argumentation (so etwa wenn sie auf Rufs 1947/48 entstandene Entwürfe für die Auseinandersetzung mit den Relikten der Münchener NS-Ehrentempel rekurriert, 99). Offen bleibt, warum eine vollständigere Bebilderung des Werkkatalogs sowie durchgehende Hinweise auf die jeweiligen Erhaltungszustände nicht möglich waren und ob tatsächlich nur die wenigen von Meissner dort publizierten Grundrisse überliefert sind. Das kann aber das große Verdienst Meissners, hier die bislang umfassendste Monografie zu Rufs Lebenswerk vorgelegt zu haben, nicht mindern. An ihrem sorgfältig recherchierten und fundierten Werk werden sich künftige Arbeiten über Ruf zu messen haben.
Anmerkungen:
[1] Nikolaus Pevsner / John Fleming / Hugh Honour (Hgg.): Lexikon der Weltarchitektur, 3. Aufl. München 1992, 541.
[2] In memoriam Sep Ruf, Ausst.-Kat. Neue Sammlung 1985/1986, Stuttgart 1985.
[3] Sep Ruf. Moderne mit Tradition, Architekturmuseum der TU München, 31.7.-5.10.2008.
[4] Winfried Nerdinger / Irene Meissner (Hgg.): Sep Ruf 1908-1982. Moderne mit Tradition, München 2008.
[5] So erklärte Ruf sein Vorgehen 1953 wie folgt: "Wir wollen keinen hypermodernen Glashausstil, sondern eine wohltemperierte, abgewogene Lösung, die auch Münchner Atmosphäre besitzt", zitiert nach: Tobias Timm: Zu cool für dieses Land, in: DIE ZEIT v. 9.8.2008.
Lucas Elmenhorst