Rezension über:

Matthijs Ilsink / Jos Koldeweij (Hgg.): Hieronymus Bosch. Visionen eines Genies, Stuttgart: Belser Verlag 2016, 192 S., zahlr. Farbabb., ISBN 978-3-7630-2743-9, EUR 24,99
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Matthijs Ilsink / Jos Koldeweij / Ron Spronk et al.: Hieronymus Bosch. Maler und Zeichner, Stuttgart: Belser Verlag 2016, 607 S., 500 Farbabb., ISBN 978-3-7630-2742-2, EUR 128,00
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Rezension von:
Stefan Fischer
Remagen
Redaktionelle Betreuung:
Dagmar Hirschfelder
Empfohlene Zitierweise:
Stefan Fischer: Neuerscheinungen zum 500. Todestag von Hieronymus Bosch (Rezension), in: sehepunkte 16 (2016), Nr. 12 [15.12.2016], URL: https://www.sehepunkte.de
/2016/12/28373.html


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Diese Rezension erscheint auch in KUNSTFORM.

Neuerscheinungen zum 500. Todestag von Hieronymus Bosch

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Mit Hinblick auf den 500. Todestag von Hieronymus Bosch, dessen feierliche Bestattung am 9. August 1516 stattfand, wurde 2010 das Forschungsprojekt Bosch Research and Conservation Project (BRCP) zum einen mit dem Ziel ins Leben gerufen, die scheinbar bis auf wenige Fälle geklärte Zuschreibungsfrage und damit den Umfang des Werks des Malers zu überprüfen. Zum anderen sollten Aufschlüsse über den Werkprozess und die Arbeits- und Werkstattorganisation, etwa die Mitarbeit der van Akens, der vielköpfigen Familie Boschs, gewonnen werden. Außerdem wurden durch das BRCP Gemälde restauriert, als Gegenleistung für die Museen und Sammlungen, die ihre Bosch-Werke für die umfassende Werkschau "Visionen eines Genies" in der Heimatstadt des Malers 's-Hertogenbosch ausliehen (Februar-Mai 2016). Danach war ein Großteil dieser Werke auch in der bisher umfassendsten Bosch-Ausstellung im Prado in Madrid (Mai-September 2016) zu sehen, wo zusätzlich neben den eigenen Beständen wie dem Garten der Lüste auch das Antonius-Triptychon aus Lissabon gezeigt wurde. [1]

In der Reihe von insgesamt drei geplanten und angekündigten Publikationen, erschien im Februar zuerst das Begleitbuch zur Ausstellung "Visionen eines Genies" mit dem gleichnamigen Titel. Anders als angekündigt ist es kein Katalog, wie man ihn zu einer Kunstausstellung erwartet. Es gibt keinen wissenschaftlichen Apparat, das heißt, Belege beziehungsweise eine entsprechende Beweisführung samt Anhang mit Anmerkungen, Literaturangaben und Quellen fehlen. Das Buch ist klar strukturiert und ansprechend gestaltet. Es besteht hauptsächlich aus großformatigen, teils ganz- oder doppelseitigen Abbildungen und zahlreichen Details. Vergleichswerke und Bosch-Werke, die nicht in 's-Hertogenbosch ausgestellt waren, sind klein abgebildet.

Das Buch ist entsprechend der Ausstellung in sechs thematische Abschnitte gegliedert, die entweder auf die Bildinhalte Bezug nehmen, oder auf die Person des Künstlers, zum Beispiel "Lebenspilgerschaft" oder "Bosch als Zeichner". Sowohl das Leben von Bosch als auch seine Gemälde und Zeichnungen sind nur ausschnitthaft dargestellt. Es gibt meist nur kurze Texte von einer Seite am Beginn jeden Abschnittes und pro Kunstwerk, die die Bildinhalte anreißen, aber leider nur in allgemeiner Form und auf das Bildthema bzw. die Hauptfigur(en) bezogen. Der Titel der Ausstellung wird weder erklärt noch in den Ausstellungsobjekten aufgegriffen. Die Begriffe Vision und Genie hätten durchaus dazu dienen können, dem Leser und Besucher eine inhaltliche und kunsthistorisch adäquate Auseinandersetzung mit dem Maler und seinem Œuvre zu ermöglichen. Stattdessen beschränken sich die Autoren auf eingestreutes Faktenwissen. Das BRCP und seine Ergebnisse spielen - wie in der Ausstellung - keine Rolle. Zum Durchblättern für eine erste Begegnung mit Bosch und zum neugierig Werden, ist das Buch gut geeignet. Es richtet sich mit dem niedrigen Preis und dem geringen Textumfang an den interessierten Ausstellungsbesucher.

Schon im Vorfeld der Ausstellung in Boschs Heimatstadt 's-Hertogenbosch wurden einige spektakuläre Zu- und Abschreibungen medial inszeniert. Während auf Begründungen in der Publikation "Visionen eines Genies" verzichtet wurde, sollte dies mit der Online-Dokumentation [2] sowie der zweiten Publikation, dem wissenschaftlichen Werkkatalog beziehungsweise Catalogue Raisonné mit dem Titel "Maler und Zeichner", nachgeholt werden. Der entwaffnend sachliche Titel betont, wie eng Zeichnen und Malen bei Bosch verbunden sind. In der Tat sind nicht nur die Bildthemen und -details bei Bosch innovativ, sondern auch die Nass-in-Nass-Malweise und die oft skizzenhafte Zeichentechnik.

Das Buch gliedert sich in einen darstellenden und in den Katalogteil. Der erste Teil umfasst vier einführende Kapitel: eine Kurzbiografie, das Kapitel "Was ist ein Bosch?", eine Darlegung der Techniken und Materialien Boschs sowie die Behandlung der "Konservierungsgeschichte" und des heutigen Zustands der Werke. Erstaunlich ist, dass im Kapitel "Was ist ein Bosch?" nicht etwa anhand von stilkritischen, technischen und materiellen Befunden eine Definition von Boschs Mal- und Zeichenkunst versucht wird, sondern dass man zunächst vor allem Inventare und andere Quellen aufführt, die die Verbreitung und Wertschätzung der Gemälde Boschs veranschaulichen, was zur Beantwortung der Frage wenig beisteuert. Zu Recht konstatieren dann die Autoren bei Bosch eine arbeitsteilige Werkstattpraxis, jedoch würde man sich hier Genaueres wünschen. Es wird lediglich angedeutet, dass beispielsweise die Unterzeichnung von einem Werkstattmitarbeiter ausgeführt sein kann (37/38). Im Anschluss nähert sich das Kapitel der Frage, was ein Bosch sei, mit der an Giovanni Morelli angelehnten, stilkritischen Methode. Dabei werden reihenweise Details aus zahlreichen Gemälden hinsichtlich Formgebung und Maltechnik miteinander verglichen, was sehr anschaulich am Beispiel des menschlichen Ohres illustriert wird. Tatsächlich lassen sich so klare Merkmale für Boschs gemalte Werke finden, insofern es sich um im Original etwa gleichgroße Details handelt. Wünschenswert wäre hier eine lückenlosere Behandlung einschließlich der in der Zuschreibung umstrittenen Werke gewesen.

Der weit größere Teil des Buches ist dem Katalog der Gemälde und Zeichnungen gewidmet. Er umfasst Originale, Werkstatt- und Nachfolger-Arbeiten, wobei letztere Kategorie bei den Zeichnungen entfällt. Die oder der jeweils verantwortliche(n) Autor(en) sind wie bei den vorherigen Kapiteln nicht genannt. Zur Einordnung in das Bosch-Œuvre wurde neben schriftlichen Quellen wie Urkunden, Inventaren und kunstliterarischen Texten auch die Dendrochronologie herangezogen. Die stilkritische Analyse dient aber als wichtigstes Kriterium für Ab- und Zuschreibungen sowie die Einordnung in die Chronologie (zum Beispiel die Anbetung der Könige aus New York als Frühwerk). Dabei bilden hochauflösende Makrofotografien sowie Röntgen- und Infrarotreflektografien eine entscheidende Grundlage.

Ganz an das Ende des Gemäldekatalogs gerückt ist ein "Bosch-Klassiker", das Gemälde mit den Sieben Todsünden und vier letzten Dingen. Das BRCP konnte dieses Werk nach eigner Aussage nicht untersuchen (468) und musste deshalb auf das Material des Prado zurückgreifen. Gegen dieses Gemälde als Bosch-Original führen die Autoren die vermeintlich mangelnde formale Qualität an. Auffällig ist, wie sie versuchen, dem Maler des Gemäldes Fehler oder Schwächen nachzuweisen (471f.). In der Unterzeichnung fehle die rasche und virtuose Arbeitsweise Boschs, es gebe Mängel oder Unsicherheiten in den Schraffuren wie auch in den Dreiviertelansichten und in der Perspektive. Doch findet sich die relativ harte Unterzeichnung in dünnen Linien zum Beispiel auch im Geizhals-Gemälde, das als Original Boschs gilt. Auch die anderen Argumente der Autoren sind schwer nachzuvollziehen, unter anderem deshalb, weil sie sie nicht anhand der guten und zahlreichen Detail-Abbildungen glaubhaft machen können. [3]

Jedes Bosch-Gemälde weist eine gewisse Varianz in der Unterzeichnung auf, das heißt, in der Menge der Schraffuren, der Genauigkeit und Feinheit oder Verschwommenheit (beziehungsweise "Wässrigkeit") der Unterzeichnung sowie der Menge und Art der Korrekturen. Dieser Varianz - und auch derjenigen in der perspektivischen Darstellungsweise - gehen die Autoren aber nicht nach. Ferner wäre zu fragen, welche Teile der Unterzeichnungen nicht von Bosch, sondern von einem Werkstattmitarbeiter ausgeführt worden sein könnten. Nicht erörtert wird, inwieweit die Mitarbeiter den Malstil Boschs imitierten. So entsteht letztlich der Eindruck einer persönlichen Wertung, ja eines Geschmacksurteils des modernen Betrachters, der die Ähnlichkeit oder Unähnlichkeit eines Bildes mit dem vergleicht, was er für typisch für den Meister hält. Die Zu- und Abschreibungen werden, wie bei den Sintflut-Tafeln in Rotterdam, lediglich mit floskelhaften Allgemeinplätzen begründet: "Stilistisch weichen die beiden Bildtafeln sowohl bezüglich der gemalten Oberfläche als auch der Unterzeichnung von dem ab, was als eigenhändiges Oeuvre betrachtet werden muss." (389) Für den Leser nachvollziehbar begründet wird dieses "Expertenurteil" nicht. [4]

Neu zugeschrieben wird unter anderem das Triptychon mit dem Jüngsten Gericht aus Brügge (Kat. 16, 278). Auch hier fehlt eine detaillierte Dokumentation von Unterzeichnung und Malschicht. Gegen eine Zuschreibung an Bosch spricht allerdings, dass das Brügger Triptychon zahlreiche Bildmotive aus drei anderen Triptychen Boschs aufgreift, nämlich aus dem Garten der Lüste und dem Heuwagen in Madrid sowie dem Jüngsten Gericht der Wiener Akademie der Künste. Beim letzten Werk ist sogar die Anordnung der Bildmotive auf der Mitteltafel identisch. Diese Art der Wiederholung im Sinne eines Zitats oder einer Paraphrase ist auch von anderen Triptychen der Werkstatt Boschs bekannt, nämlich dem Ecce Homo in Boston und dem Hiob-Triptychon in Brügge (Kat. 23 und 24). Unlogisch ist es anzunehmen, dass das Jüngste Gericht aus Brügge schon vor den anderen großen Triptychen um 1495/1505 gemalt worden sei, etwa vor dem anhand dendrochronologischer Analyse erst nach 1510 zu datierenden Heuwagen.

So sehr die Konzentration auf die kunsttechnologische Methode begrüßenswert und notwendig ist, so ist es doch sehr bedauerlich, dass man ikonografische, kunsttheoretische und ästhetisch-rezeptive Fragen weitgehend zur Seite geschoben hat. Die Kreativität bzw. das Innovative und Inventive Boschs, das den Kern seiner Kunst und seine Popularität ausmacht, werden nicht weiter erforscht. Das Künstlerische wird auf das rein Handwerklich-Technische und damit auf das vermeintlich positivistisch Erforschbare reduziert. Doch selbst hier bleibt die Systematik und Methodik im Ansatz stecken. Die vielen Zu- und Abschreibungen sind selten überzeugend. Die Publikation bringt zwar eine Fülle von reich illustrierten Einzelbeobachtungen, aber längst keine methodische Sicherheit oder wenigstens hilfreiche Orientierung in der Zuschreibung von Werken Boschs. Offenbar war das BRCP im Wesentlichen ein Vehikel, um eine Ausstellung als lukratives Massenevent mit über 420.000 Besuchern zu ermöglichen und wissenschaftlich zu rechtfertigen. Die Chance, kunsthistorisches Arbeiten weiterzuentwickeln und einem großen Publikum nahe zu bringen, wurde vertan.


Anmerkungen:

[1] Bosch. The 5th Centenary Exhibition, hg. von Pilar Silva Maroto, Ausst.Kat. Museo del Prado, Madrid, Madrid 2016.

[2] http://boschproject.org/; ferner erschien zum Ende der Ausstellung: Luuk Hoogstede / Ron Spronk / Robert G. Erdmann (Hgg.): Hieronymus Bosch. Painter and Draughtsman. Technical Studies, New Haven / London 2016. Digitale Dokumente zu Bosch und seiner Kunst: http://boschdoc.huygens.knaw.nl/boschdoc/.

[3] Siehe Anm. 1, 305-310; sowie zu den mit den sonstigen Gemälden Boschs identischen Weißhöhungen: "Jheronimus Bosch' witte hoogsels: Welke rol kunnen de witte hoogsels spelen bij de authentificatie van werken van Jheronimus Bosch?", in: https://symposiumstudentenverenigingou.files.wordpress.com/2012/10/bosch-onderzoeksscriptie-20120901.pdf, 57f.

[4] Siehe auch Anm. 2. Vgl. dagegen Susanne Schreiber über Lucas Cranach: "Mit dieser mustergültigen Plattform hat der auf Herrschaftswissen basierende Oeuvrekatalog ausgedient", in: http://www.handelsblatt.com/panorama/kultur-kunstmarkt/teilen-in-netz-cranach-fuer-alle/6112228.html, 1.

Stefan Fischer