Rudolf Schlögl / Philip R. Hoffmann-Rehnitz / Eva Wiebel (Hgg.): Die Krise in der Frühen Neuzeit (= Historische Semantik; Bd. 26), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2016, 399 S., 2 s/w-Abb., ISBN 978-3-525-36728-5, EUR 55,00
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Man müsse heutzutage "eine Beschäftigung mit dem Konzept der Krise" angesichts der evidenten Verwerfungen auf den Finanzmärkten "nicht eigens begründen": So beginnt die Einleitung. Bei der Lektüre des Tagungsbandes drängt sich freilich ein anderer aktueller Bezug viel häufiger auf: Die Krise suggeriert unaufschiebbaren Entscheidungsbedarf, und zwar aus unentrinnbaren Handlungszwängen heraus. "Sie selbst diktiert jene Handlungen, durch die das Staatswesen [...] gerettet werden" kann (335). "Krise" evoziert Zeitdruck für "alternativlose" Entscheidungen. Bekanntlich beruhte die Regierungskunst Bismarcks (er kommt in dem Band nicht vor) wesentlich im Meistern selbstgeschaffener Krisen. Aber dem Leser könnten sich noch aktuellere Bezüge aufdrängen.
Die Einleitung erklärt, sie interessiere "Krise" nicht als analytische Kategorie des Historikers, sondern als "Kategorie der Selbstbeobachtung in bestimmten historischen Situationen" (9). Das gibt aber insgesamt nicht den Kurs vor. Die Mehrzahl der Beiträge kennt "Krise" gar nicht als Quellenbegriff, sie ist dort moderne Diagnose. Eine geistreiche Studie warnt vor der inflationären Verwendung des Terminus, auch mit antiken Beispielen ("Krise der römischen Republik"): "Wie lange kann ein Reich untergehen?" (110). In der Tat, man sollte Krisen- und Niedergangsdiskurse auseinanderhalten, was nicht allen Beiträgen gleich gut gelingt. Eine Studie zum schweizerischen Bauernkrieg von 1653 warnt davor, "Krisen auf bloße Diskurs- und Zuschreibungsphänomene von Zeitgenossen" zu reduzieren, "Krisen haben [...] einen essenzialistischen Kern" (142). Auch den Reichsstädten der zweiten Hälfte der Frühneuzeit wird eine veritable Krise, "zumal als Schuldenkrise" (170) attestiert, aber kann eine Krise eineinhalb Jahrhunderte währen? Wieder anderswo heißt es, man könne den Eindruck gewinnen, "dass das Alte Europa offenbar nur aus Krisen bestand", "was ja auch nicht ganz falsch ist" (155). Wir erfahren, dass das 17. Jahrhundert in Rumänien "als das Jahrhundert der Krise" galt und gilt (306). Unspezifischer, länderübergreifend stoßen wir auf "die Krise in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts" und nur eine Seite danach auf die "Krise des 17. Jahrhunderts" (167). Können also doch ganze Kontinente und ganze Jahrhunderte krisenhaft sein?
Der Krise als Kategorie der Selbstbeobachtung ist ein exzellenter Artikel (von Reinhart Koselleck) in den "Geschichtlichen Grundbegriffen" gewidmet. Wir lernten dort, dass die ursprünglich medizinische Kategorie "seit dem 17. Jahrhundert [...] eine metaphorische Ausweitung auf die Politik, die Psychologie, die Ökonomie und schließlich auch auf die Geschichte" erfahren habe. Die beiden frühesten Belege, die das zeigen sollen, stammen von 1627 bzw. 1643. Übrigens beobachtete schon Koselleck, dass "die Diagnose der Krise" gern "zum Legitimationstitel politischen Handelns" gemacht werde. Was wissen wir inzwischen besser als noch Koselleck? Es gibt einen neuen (vorläufig?) frühesten Fund: Eine prognostische Flugschrift aus dem Jahr 1605 appliziert den Terminus "Crisis" auf den als pathologisch empfundenen Zustand des konfessionell polarisierten Alten Reiches. Die französische "crise" begann sich seit den 1630er-Jahren in politische Diskurse einzuschleichen. Und die englische "crisis"? Sie habe "erst im 18. Jahrhundert [...] zunehmend auch zur Interpretation und Beschreibung politischer Zustände Verwendung" gefunden, lesen wir einerseits (90); anderswo ist "im britischen 17. Jahrhundert" von einer "massenhaften Begriffsverwendung" in politischen Kontexten die Rede (388).
Warum wurde das Empfinden, es müsse unter Zeitdruck eine einschneidende, womöglich existenzrettende politische Entscheidung gefällt werden, vor 1600 nicht auf den Begriff gebracht? Warum begegnet der Begriff im 18. Jahrhundert deutlich häufiger als im 17.? Hilft der Rekurs auf die Systemtheorie ("das Krisendispositiv ist Teil des 'Immunsystems' von Sozialsystemen höherer Komplexität": 26; "Resultat einer sich pluralisierenden politischen Kultur [...], die den Begriff der Krise als leicht zu handhabendes Steuerungsinstrumentarium dort für sich entdeckt hatte, wo der Ausgang komplexer Ereignisfolgen kaum zu kalkulieren war": 336)? Oder liegt es einfach an "der seit dem letzten Drittel des 16. Jahrhunderts kontinuierlich anwachsenden Zahl medizinischer Handbücher" (357)? Gibt es einen "engen (auch zeitlich engen) Zusammenhang mit dem Aufkommen eines neuen Fortschrittsdenkens in der Aufklärung" (184), weil erst jetzt "Fortschritt [...] als Normalzustand verstanden wird" (186)? Reibt sich diese Mutmaßung nicht am Befund, dass so viele Beiträge (unterschiedlich erfolgreich) damit ringen, überhaupt zwischen Niedergangs- und Krisendiskursen trennscharf zu unterscheiden?
Auch verschiedene derjenigen Autoren, die den Terminus nicht in ihren Quellen fanden, operieren mit der "Krise" als einer zeitgenössischen Denkfigur - einem Konzept, das eben noch nicht auf den Begriff gebracht worden sei. Das kann in Einzelfällen anregende Überlegungen generieren, freilich lag dem Band offenkundig kein allen Beiträgen gemeinsames elaboriertes Krisenkonzept zugrunde. Um ein Beispiel herauszugreifen - ein (wie viele Studien ja durchaus lesenswerter) Aufsatz über Liedflugblätter, die Himmelserscheinungen thematisieren, resümiert: "Die Liedflugblätter beschrieben eine defizitäre und prekäre Gegenwart und forderten zum Handeln auf. Insofern stellten sie eine krisenhafte Situation dar" (74). Aber stimmt das denn? Die zu Umkehr und frommer Einkehr zwecks Rettung des eigenen Seelenheils ermahnenden Texte kennen doch gerade keine Möglichkeit des Menschen, von sich aus aktiv die Zukunft der Erde zu gestalten, ja, sie kennen auch gar keine offene Zukunft, ihre Autoren wussten zweifelsfrei (nämlich aus der Johannes-Apokalypse), einem wie furchtbaren Weltende die Menschheit zutorkelte. Wenn den Rezensenten nicht alles täuscht, hat sich schon die eine Zeitlang modische Debatte über eine "General Crisis" des 17. Jahrhunderts wegen eines unscharfen und überdehnten Krisenbegriffs totgelaufen. "Krise!" ohne entsprechende lexikalische Befunde auszurufen, erfordert ein präzises Krisenkonzept. Und selbst, wenn man sich hierauf einigen könnte, bleibt doch die Frage spannend, warum die entsprechende Denkfigur (so sie denn tatsächlich verbreitet gewesen sein sollte) so spät erst zur begrifflichen Verdichtung drängte.
Die Aufsatzsammlung ist selbst für einen Tagungsband ungewöhnlich disparat; Anregungen und offene spannende Fragen findet der Leser viele, so etwas wie eine 'Gesamtaussage' eher nicht. Einige Trends zeichnen sich immerhin ab: Waren krisenhafte Zuspitzungen zunächst häufig in eschatologische Niedergangsszenarien eingebettet, spielen die Naherwartung und dann überhaupt der heilsgeschichtliche Rahmen später keine Rolle mehr. Und wir merken - am instruktivsten in einem substanziellen Beitrag, der die Wahrnehmung der beiden großen Währungskrisen des 17. Jahrhunderts vergleichend rekonstruiert -, wie Personalisierung und Skandalisierung ("die von Gott zur Strafe gesandte und vom Satan geführte Armee der Wucherer": 243) zugunsten struktureller Analysen zurücktreten, wie aus Komplexitätsreduktion Komplexitätsmanagement wird.
Axel Gotthard