Hans Medick: Der Dreißigjährige Krieg. Zeugnisse vom Leben mit Gewalt, Göttingen: Wallstein 2018, 448 S., 40 s/w-Abb., ISBN 978-3-8353-3248-5, EUR 29,90
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Die ausgiebig kommentierte Quellensammlung bietet Ausschnitte einer ganzen Reihe von Lebensaufzeichnungen, ferner einiger weniger Flugschriften, drittens finden wir Zeitungsnotizen zum dreißigjährigen Kriegsgeschehen. Dem gravierenden Forschungsdesiderat rund um die bewusst populären, oft pointiert parteiischen Flugschriften - sie als eigene Textgattung mit ihren spezifischen Stilmitteln und Argumentationsmustern ernst zu nehmen und zu analysieren, haben wir noch kaum begonnen - ist mit einigen Textschnipseln natürlich nicht beizukommen. Aber wenn es dem Lesebuch gelingt, ein breiteres Publikum auf die vielen faszinierenden, oft aufwühlenden Lebensaufzeichnungen aus den schlimmen Kriegsjahren neugierig zu machen, ist das sehr zu begrüßen.
Falls Medick wirklich "das Ziel einer Gesamtdarstellung" (so 12) vorschwebte, wurde er seinem ambitionierten Anspruch nicht gerecht: Die reichhaltigen Forschungserträge der letzten zehn, zwölf Jahre nehmen seine die Quellenausschnitte rahmenden Kommentare nur sehr selektiv zur Kenntnis - in den Fußnoten fehlen zahlreiche aktuelle Veröffentlichungen, taucht hingegen wieder und wieder ein Name auf: "Medick". Hätte er sich offen und neugierig den vielen Neuerscheinungen der letzten Jahre zugewandt, irritierte er den Leser auch nicht auf fast jeder Seite mit einem offenkundig sehr tief sitzenden persönlichen Feindbild: Dieses zeigt eine Historiografie, die in ihrer angeblichen "Fixierung auf Kriegsgeschichtsschreibung" (320) der "macht-, diplomatie- und ereignisgeschichtlichen Perspektive" (367) verfallen sei, sich den "Wahrnehmungsschemata von Politik- und Militärhistorikern" (17), der "Perspektive der Schlachten-, Ereignis- und Politikhistoriker" (223) verschrieben habe, usw. usf. Solche Vorwürfe können die jüngere Forschung gar nicht treffen.
Keine "Gesamtdarstellung" also - über die großen Linien und zentrale analytische Zugriffe (wie das "Warum?", und: "warum so lang?") wird man sich weiterhin anderswo informieren. Um nur eine spannende Frage zu streifen: Wurde der sich chronifizierende Kampf von Bauern und Handwerkern, von den regionalen Eliten, von den Entscheidungsträgern in der Residenz als Ringen um weltanschauliche Wahrheit wahrgenommen? Apodiktisch behauptet Medick die "Dominanz machtpolitisch-dynastischer Erwägungen", es "dominierten" in diesem Krieg "machtpolitische Interessen" (59). Nur zwei Seiten später lesen wir, "dass Fragen von konfessioneller Zugehörigkeit und religiösem Bekenntnis prägend waren", dass der "Modus des Religiösen [...] ein durchgängiges [!] Wahrnehmungs- und Handlungsmuster des Krieges" gewesen sei, ja, das Kriegsgeschehen sei "fundamental von religiösen Wahrnehmungen durchdrungen" gewesen (61f.). Hier wird nicht stringent argumentiert. In der Vormoderne ein "Deutsches Reich" zu platzieren, ist natürlich ein terminologischer Missgriff. Vom Restitutionsedikt - tatsächlich ein ausführlicher parteiischer (weil die katholischen Lesarten oktroyierender) Kommentar zum Augsburger Religionsfrieden - hat Medick merkwürdige Vorstellungen (vgl. z.B. 90, 200). Der Prager Frieden als "Versuch, zu den politischen [...] Regelungen" der Vorkriegszeit "zurückzukehren" (321)? Nein, diesem "Versuch" verschrieben sich jene westfälischen Diplomaten, die 1648 monarchische und oligarchische Deformationen des politischen Systems der Kriegsjahre korrigierten, wie sie zumal seit 1635 (als der Kaiser und ein Kurfürst in Prag paktierten, dabei beispielsweise Steuern ohne Reichstag vereinbarten oder alle Bündnisse außer dem Kurverein für aufgelöst erklärten) unübersehbar geworden waren. Aber wegen solcher Themen wird man das Lesebuch auch nicht konsultieren.
Das Buch ist groß im Kleinen. Es reiht knappe Textauszüge aneinander, die uns neugierig darauf machen, ihre so unterschiedlichen Autoren näher kennenzulernen. Gibt es ihnen allen gemeinsame Wahrnehmungsmuster? Das Trauma dieser Generation ist Erwartungsunsicherheit, das Leben wurde (noch) unvorhersehbarer; immer aufs Neue musste man die "Ordnung", musste man seine Alltagsroutinen gegen externe Störungen verteidigen. Man musste scheinbar wirren Zeitläufen einen Sinn abtrotzen, der den eigenen mentalen Haushalt im Lot hielt (die Deutungsmuster, die hierbei dominieren, waren - bei den Entscheidungsträgern oft nur bis in die 1630er-Jahre hinein, bei Handwerkern oder Bauern bis Kriegsende, und zuletzt inbrünstiger denn je - religiöse). Und alle Lebensaufzeichnungen künden schlechterdings von Angst! Bei manchen erspürt man sie zwischen den Zeilen, manche Autorinnen versuchten dieses Gefühl schreibend zu bannen - wie Anna Maria Junius, die ganz offen von so vielen schlaflos durchbangten Nächten spricht und von der Beklemmung, die die weithin sichtbaren, das Grauen der Kriegsnächte potenzierenden Feuersbrünste in ihr auslösten; oder Klara Staiger, die angesichts des soundsovielten schwedischen Überfalls auf ihr "Clösterle" im Wortsinn den Boden unter den Füßen verliert, eine Angstattacke erleidet. [1] Andere Ausschnitte versetzen uns in die beengte, latent gewaltgeschwängerte Szenerie des "Quartiers", wo an "Privatsphäre" (das Wort kennen unsere Texte noch nicht) gar nicht zu denken war. Natürlich können an die auszugsweise vorgestellten Texte viele andere Leitfragen gestellt werden: so die nach der Naturwahrnehmung. Einerseits ist Natur in bäuerlichen Aufzeichnungen ganz nüchtern und 'unromantisch' nutzbare Ressource, (Über)lebensmittel. Andererseits - das zeigen die kleinen Ausschnitte Medicks deutlicher - birgt diese Natur immer auch eine zweite Bedeutungsebene, man liest sie auf Warnungen oder Trostverheißungen des Schöpfers der Natur und "wahren" Kriegsherrn hin. Ach ja, und über Peter Hagendorf, dessen Notizbüchlein zuletzt als "Tagebuch eines Söldners" große Beachtung fand, erfahren wir Neues: Die letzten, in schwer lesbaren Ortsnamen gleichsam ausfransenden Zeilen künden nicht davon, dass er neue Schlachtfelder suchte, er kehrte in seine Heimat und (erfolgreich!) ins Zivilleben zurück.
Dem Lesebuch ist zu wünschen, dass es viele 'Nichtprofis' dazu verführt, sich einmal in die spannenden Selbstzeugnisse dieser Kriegsgeneration zu vertiefen. Hätte Medick doch noch mehr der Verführungskraft seiner Texte getraut! Etwas über 90 Seiten, also nicht einmal ein Viertel des Buches füllen Quellentexte. Natürlich, die Kontexte sollten wissenschaftlich exakt ausgeleuchtet werden, an solcher Akribie hat es, zumal bei den ausladenden Schlachtenschilderungen, wahrlich nicht gefehlt. Ob es wirklich nötig war, die Quellentexte in heutiges Dudendeutsch zu überführen? Hans Heberle spricht nicht mehr Schwäbisch, Anna Maria Junius nicht Fränkisch, die Auszüge lesen sich wie Kapitel aus modernen Memoiren. Der Rezensent findet das schade. Aber wenn diese Entscheidung dem Kalkül (eventuell des Verlags?) entsprang, Nichthistoriker neugierig zu machen, und wenn dieses Kalkül sogar aufgehen sollte, dann ist das wissenschaftlich fragwürdige Prozedere vielleicht auch wieder nicht zu kritisieren. Auf derart faszinierende vormoderne Texte aus einer aufwühlenden Zeit aufmerksam zu machen, ist verdienstvoll.
Anmerkung:
[1] Ausführlicher zu Angstgefühlen in den Lebensaufzeichnungen dieser beiden Frauen: Axel Gotthard: "Unsere hertzen stetig weindten" [...], in: Sabine Wüst (Hg.): Schätze der Welt aus landeshistorischer Perspektive. Festschrift zum 65. Geburtstag von Wolfgang Wüst, St. Ottilien 2018, 609-617.
Axel Gotthard