Hans-Walter Schmuhl: Die Gesellschaft Deutscher Neurologen und Psychiater im Nationalsozialismus, Heidelberg: Springer-Verlag 2016, XIII + 457 S., ISBN 978-3-662-48743-3, EUR 39,99
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Zur Geschichte der Psychiatrie zur Zeit des Nationalsozialismus ist in den letzten dreißig Jahren viel geforscht worden. Doch trotz der Ergebnisse dieser Arbeiten tat sich die Psychiatrie bis in die 2000er Jahre hinein schwer, die eigene Verantwortung in den Sterilisierungs- und Mordprogrammen klar zu benennen. Ein Grund dafür war auch, dass neben den vielen Einzeldarstellungen eine systematische Darstellung der Fachgeschichte aus organisationsgeschichtlicher Perspektive fehlte. Im Jahr 2009 schließlich setzte der Vorstand der "Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde" (DGPPN) eine mit Volker Roelcke, Carola Sachse, Heinz-Peter Schmiedebach und Paul Weindling besetzte Kommission ein, die mit der Aufarbeitung der Geschichte der Vorläufervereinigung "Gesellschaft Deutscher Neurologen und Psychiater" im Nationalsozialismus betraut wurde. Mit der vorliegenden Studie von Hans-Walter Schmuhl liegt nun auf breiter Quellenbasis - die vom Aktenbestand der DGPPN bis zu den National Archives in Washington reicht - ein umfassendes Ergebnis dieses Auftrags vor.
Schmuhl beginnt seine Studie mit der Gründungsgeschichte der Gesellschaft Deutscher Neurologen und Psychiater im Zeitraum 1933 bis 1935 und der Einordnung dieser Vorgeschichte in den wissenschaftsgeschichtlichen Kontext, der von der Konkurrenz unterschiedlicher Fachgesellschaften in den Bereichen der Neurologie, Psychiatrie und sonstigen Psychowissenschaften geprägt war: Erst 1935 gelang es Ernst Rüdin, Direktor der Deutschen Forschungsanstalt für Psychiatrie in München, mit der Unterstützung von Arthur Gütt, dem Leiter der Abteilung Volksgesundheit im Reichsinnenministerium, verschiedene psychiatrische bzw. neurologische Fachgesellschaften zu vereinen und sie zu einer nach dem "Führerprinzip" aufgebauten Gesellschaft mit ihm als Vorsitzenden umzubauen. Bezüglich der Mitgliedschaft von jüdischen Psychiatern verhielt sich die Gesellschaft zuerst abwartend, bis diese nach und nach verdrängt und 1938 vollends ausgeschlossen wurden.
Von der Gründungsphase ausgehend zeichnet Schmuhl die weitere Entwicklung der Gesellschaft Deutscher Neurologen und Psychiater bis Kriegsbeginn sowie während der Kriegsjahre chronologisch nach und endet schließlich mit einem Überblick über die Neukonsolidierung und personelle Umstrukturierung nach 1945. Methodisch orientiert sich Schmuhl dabei an zwei Prämissen: erstens am grundsätzlich "komplexen Wechselverhältnis" (8) von Politik und Wissenschaft - und besonders der Humanwissenschaften - in modernen Gesellschaften; zweitens daran, dass eine ausschließlich organisationsgeschichtliche Analyse des Verbands die informellen Beziehungen "zwischen Akteuren aus Wissenschaft, Politik und Verwaltung" (16) nicht ausreichend berücksichtigen würde, weshalb er seinen Ansatz um einen netzwerkanalytischen Zugang erweitert.
Auf diese Weise gelingt es Schmuhl, unter den Strukturen der Fachgesellschaft eine doppelte Netzwerkstruktur aufzuspüren, von denen er den einen Knotenpunkt bei Ernst Rüdin, dem Vorsitzenden der Gesellschaft, einen weiteren bei Paul Nitsche, dem späteren ärztlichen Leiter der Zentrale der "Aktion T4", verortet. In ihrer Bedeutung für die nationalsozialistische Biopolitik ergänzten sich diese Netzwerke: Ernst Rüdin und sein Netzwerk hatten von der Gründungsphase bis zum Kriegsbeginn erheblichen politischen Einfluss. Schmuhl arbeitet detailliert heraus, wie die Gesellschaft die Funktion einer "Clearing-Stelle" (268) einnahm, die in Übereinstimmung mit der nationalsozialistischen Biopolitik erbbiologische Schwerpunkte setzte, umgekehrt aber auch das Wissen der psychiatrischen Vererbungslehre in den politischen Machtapparat und seine Programme einspeiste. Erwähnt seien hier nur die Umsetzung, Weiterentwicklung und Vermittlung des "Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses" oder die gezielten Versuche, bei Tagungen und in Fachzeitschriften erbbiologische Schwerpunkte zu setzen und so die psychiatrische Vererbungslehre stärker im Fachdiskurs zu etablieren.
Mit Kriegsbeginn veränderte sich die Bedeutung der Akteure und ihrer Netzwerke untereinander. Im Aufbau des Machtapparats zur Planung und Durchführung des Massenmords an geistig behinderten und psychisch kranken Menschen gewann Paul Nitsche mit seinem Netzwerk zunehmend an Bedeutung, während Rüdins Einfluss zurückging. Dieser Bedeutungsverlust auf Organisationsebene bedeutete jedoch nicht, dass die informellen Netzwerke nicht intakt geblieben wären. Auch weiterhin nahmen Psychiater aus dem Kreis der Gesellschaft Deutscher Neurologen und Psychiater Schlüsselrollen ein, wie etwa Kurt Pohlisch, Friedrich Panse, Friedrich Mauz oder Werner Villinger, die als Gutachter für die "Aktion T4" fungierten, oder auch Carl Schneider, Julius Hallervorden und Hugo Spatz mit ihren die "Euthanasie" flankierenden Forschungen. Durch die Verflechtungen zwischen der Gesellschaft Deutscher Neurologen und Psychiater und der Zentrale der "Aktion T4" sowie deren Gutachtern und Forschungsabteilungen, so zeigt Schmuhls Studie an zahlreichen Beispielen, waren viele der einflussreichen Psychiater aktiv an der Entwicklung und Durchführung der "Euthanasie"-Programme beteiligt.
In der Einschätzung, wie der Vorsitzende der Gesellschaft, Ernst Rüdin, selbst zum Massenmord stand, fällt Schmuhl ein differenziertes, aber eindeutiges Urteil. Er hebt hervor, dass Psychiater, die sich angesichts des anlaufenden Massenmordes mit der Bitte um eine kritische Stellungnahme an Rüdin und die Gesellschaft wandten, hart zurückgewiesen wurden. Die These, dass Rüdin das Vernichtungsprogramm persönlich abgelehnt habe, ist angesichts dieser und anderer Belege - wie die Unterstützung der Begleitforschung der "Euthanasie" - nicht länger zu halten. Die Gesellschaft Deutscher Neurologen und Psychiater unternahm keinen Versuch, sich mit einer Stellungnahme oder Kritik gegen die Sterilisierungsprogramme und Massenmorde zu stellen; viele Akteure ihres Netzwerks, so die Bilanz des Werks, waren direkt daran beteiligt oder befürworteten die Aktionen aus ihrer wissenschaftlichen Sicht. Manche freilich, auch das zeigt Schmuhl an einzelnen Beispielen, nutzten (kleine) Handlungsspielräume, um sich an den Programmen nicht beteiligen zu müssen; sie waren jedoch deutlich in der Minderzahl und konnten nicht mit der Rückendeckung ihrer Fachgesellschaft rechnen.
In akribischer Quellenarbeit macht Schmuhl immer wieder deutlich, dass die Entwicklung der Psychiatrie im Nationalsozialismus weniger einem vorgefertigten Plan folgte, als vielmehr oft aus der jeweiligen Situation heraus entstand - was die verantwortliche Mitwirkung einzelner Akteure wie des gesamten Fachs an den Verbrechen noch hervorhebt. Die Studie bietet aber auch einen tiefen Einblick in die fachwissenschaftlichen Denkweisen und -logiken, die die Basis für die Sterilisierungs- und Mordprogramme bildeten. Die lange Zeit diskutierte Frage, inwieweit die Psychiatrie auch auf der Ebene der fachwissenschaftlichen Organisation in das nationalsozialistische Programm involviert war und wie weit die Unterstützung der Sterilisierungen und Massenmorde reichte, findet mit der vorliegenden Studie eine klare Antwort.
Sandra Schmitt