Hans-Walter Schmuhl: Kur oder Verschickung? Die Kinderkuren der DAK zwischen Anspruch und Wirklichkeit, München / Hamburg: Dölling und Galitz 2023, 304 S., ISBN 978-3-86218-163-6, EUR 28,00
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Kinder- und Jugendschutz umfasste seit der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert Forschungen und Initiativen, in deren Mittelpunkt das Wohlergehen Heranwachsender stand. Kuraufenthalte in naturnahen Umgebungen sollten dazu beitragen, Kinder körperlich und seelisch zu stärken. Eine ganze Reihe von Institutionen des Gesundheitswesens nahm sich dieser Aufgaben an. Unzählige bedürftige Mädchen und Jungen haben in Deutschland, besonders nach Kriegszeiten, einige Wochen zur Kur in Heimen verbracht. Die Deutsche Angestelltenkrankenkasse (DAK) betrieb nach 1945 drei eigene Heime und arbeitete mit 26 Heimen anderer Träger zusammen.
Die Kuraufenthalte sollten der Erholung dienen, hinterließen jedoch bei etlichen "Verschickten" Eindrücke, die sie aus späterer Sicht als Leidensgeschichten schilderten und noch schildern. In der mit einem Fragezeichen versehenen Überschrift des hier vorgestellten Buches Kur und Verschickung? deutet Hans-Walter Schmuhl bereits die Zwiespältigkeit von Erfahrungen an, mit der einstige Kurkinder sich an ihre Aufenthalte in Erholungsheimen erinnern.
Das Buch gliedert sich in übersichtliche Abschnitte. Nach einleitendem Text mit Hinweisen auf erkenntnisleitende Fragen und Vorgehensweise widmet sich Schmuhl zunächst der Übersicht über das Kinderkurwesen der Angestelltenkrankenkassen seit den 1920er-Jahren bis 1945 (Kapitel 1). Es folgt ein Überblick, der die Zeit nach Ende des Zweiten Weltkriegs bis in die 1990er-Jahre (Kapitel 2) umfasst. Nach einem methodischen Einschub (Kapitel 3) liegt der Schwerpunkt auf den Aussagen von 17 Befragten (Kapitel 3), welche in Heimen untergebracht waren, die von der DAK in Eigenregie betrieben wurden. Abbildungen ergänzen das dritte Kapitel sinnvoll. Das Buch schließt mit einer Zusammenfassung, aus der sich weiterführende Fragen entwickeln lassen.
Unzählige bedürftige Mädchen und Jungen haben in Deutschland, besonders nach Kriegszeiten, also nach 1918 und 1945, einige Wochen zur Erholung in Heimen verbracht. Eine Untersuchung von Kurkindern aus dem Jahre 1950 - "Langeoog-Studie" genannt - zeigt eindrücklich, wie die Folgen des Zweiten Weltkriegs für Heranwachsende damals eingeschätzt wurden: Mitarbeiter*innen beschrieben im Zuge der Datenerhebung Untergewicht, Rachitis und Blutarmut als typisch. Besonders Kinder aus Flüchtlingsfamilien seien unterernährt. Viele Kinder seien für ihr Alter zu klein. Sie hätten Haltungsschäden und schlechte Zähne. Sie seien sehr anfällig für Infektionskrankheiten. Darüber hinaus hätten etliche Kinder kaum Selbstvertrauen, sie seien ernst, schweigsam und könnten sich schlecht konzentrieren. Sie litten unter Albträumen, Bettnässen, Schwindel und Kopfschmerzen.
Viele Erwachsene nahmen an, Kinder "spielten das so weg". Bessere Ernährung mache aus den Kurkindern wieder gesunde, fröhliche, so eine verbreitete Annahme. [1] Die seelischen Folgen kriegsbedingter Verlust- und Gewalteinwirkungen wurden unterschätzt. Darüber hinaus wirkten Erziehungserbschaften, die an Gehorsam und Unterordnung orientiert waren, in den Kureinrichtungen noch lange nach. Sie bilden den Hintergrund für die Erinnerungen vieler einstiger verschickter Kinder. Sie fühlten sich ausgeliefert, allein gelassen und hilflos. Oft konnten sie über ihre Erfahrungen erst Jahre später im Austausch mit anderen sprechen, die auf vergleichbare persönliche Erfahrungen zurückblicken.
Hans-Walter Schmuhl bezieht in der vorgelegten Untersuchung zum einen Initiativen mit ein, die "das Elend" der Verschickten öffentlich bekannt gemacht haben. [2] Er ist seit Jahren mit facettenreichen Aspekten von Psychiatrie- und Anstaltsgeschichte befasst. Eine Stärke seiner Untersuchungen war und ist, dass er Interviews mit Betroffenen führt. Sie sind methodisch fundiert, respektieren die Gefühlslagen der Befragten und berücksichtigen unterschiedliche, nicht ausschließlich negative subjektive Rückblicke. Schmuhl bezieht sich zudem auf die institutionellen Rahmenbedingungen der in der Kritik stehenden Kuren (120-135). Als methodischer Analyserahmen dient ihm das Konzept des kanadischen Soziologen Erving Goffman zur "totalen Institution". So werden Einrichtungen bezeichnet, in denen Menschen ein intimer Rückzugs- bzw. Privatraum fehlt, in denen sie willkürlichen, vielfach ausgesprochen demütigenden Strafen wehrlos ausgesetzt sind. Sie erleben sich als hilflos; ihr "Selbst" wurde nachhaltig physisch und psychisch verletzt. [3]
Konkret bedeutete das für Kurkinder: Für einige war bereits die Anreise angstbesetzt (149-152). Angekommen in einer fremden Umgebung, fühlten sie sich alleine gelassen. (Ein Bildteil veranschaulicht die Unterbringung.) In den großen Schlafsälen gab es oft keinen Nachttisch, in dem sie Persönliches aufbewahren konnten. Briefe wurden kontrolliert und zensiert. Der Tagesablauf war minutiös getaktet und ließ so gut wie keine Freiräume. Die Mittagsruhe beschrieben Betroffene nicht selten als Qual. Als extrem belastend erinnerten sie Demütigungen während der Nachtstunden (175). Verboten war es beispielsweise, das Bett zu verlassen. Bereits beim Abendessen hätten sie darauf achten müssen, so wenig Flüssigkeit wie möglich zu sich zu nehmen. Man habe ja nachts nicht auf die Toilette gehen dürfen. "Bettnässen" habe regelmäßig zu Erniedrigungen geführt. Eine Interviewpartnerin beschrieb, ihr Selbstwertgefühl sei langfristig beeinträchtigt gewesen (214).
Deutsche Erziehungstraditionen mit Langzeitwirkungen, in deren Mittelpunkt Drill und Gehorsam standen, haben, so lässt sich zusammenfassen, verhängnisvolle Spuren im Leben von Menschen mehrerer Altersgruppen hinterlassen. Abhärtung, Härte gegen sich selbst gehörten dazu. Für liebevolle Zuwendung blieb selten Raum. Hans-Walter Schmuhl berücksichtigt diese Langzeitperspektive. Gewinnbringend ist diese Arbeit für Leser*innen, die sich für Erziehungsfragen im 20. Jahrhundert oder für Kindheitsgeschichte(n) in einem weiten zeitlichen Bogen interessieren. Zu empfehlen ist sie zudem für Menschen mit "Verschickungs"-Erfahrungen, die ihre eigenen Geschichten historisch einordnen möchten. Einige zusätzliche Hinweise, etwa auf die eingangs erwähnte "Langeoog-Studie", wären wünschenswert gewesen. Gesundheitlich, seelisch und körperlich unterstützungsbedürftige Kinder benötigen, so ein nachdenkliches Fazit aus dieser anregenden Lektüre, Menschen und Umgebungen, die ihnen gerecht werden. Ihrer Verletzlichkeit auf die Spur zu kommen, bleibt wohl auch weiterhin die Aufgabe von Forscher*innen, die einen Spagat zwischen den Wissenschaftsdisziplinen, nicht zuletzt der Zeitgeschichte und der Psychologie, wagen.
Anmerkungen:
[1] Elisabeth Lippelt / Claudia Keppel (Langeoog): Deutsche Kinder in den Jahren 1947 bis 1950. Beitrag zur biologischen und epochalpsychologischen Lebensalterforschung, in: Schweizerische Zeitschrift für Psychologie und ihre Anwendungen 9 (1950) 9, 212-322.
[2] Anja Röhl: Das Elend der Verschickungskinder. Kindererholungsheime als Orte der Gewalt, Gießen 2021.
[3] Erving Goffman: Asyle: Über die soziale Situation psychiatrischer Patienten und anderer Insassen, Frankfurt am Main 1971 (1961); ders.: Die Territorien des Selbst, in: Das Individuum im öffentlichen Austausch. Mikrostudien zur öffentlichen Ordnung, hg. von ders., Frankfurt am Main 1982, 54-97.
Barbara Stambolis