Rezension über:

Brian Davies: Thomas Aquinas's Summa contra Gentiles. A Guide and Commentary, Oxford: Oxford University Press 2016, XVIII + 486 S., ISBN 978-0-19-045653-5, GBP 64,00
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Rezension von:
Andreas Speer
Thomas-Institut, Universität zu Köln
Redaktionelle Betreuung:
Ralf Lützelschwab
Empfohlene Zitierweise:
Andreas Speer: Rezension von: Brian Davies: Thomas Aquinas's Summa contra Gentiles. A Guide and Commentary, Oxford: Oxford University Press 2016, in: sehepunkte 17 (2017), Nr. 9 [15.09.2017], URL: https://www.sehepunkte.de
/2017/09/29521.html


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Brian Davies: Thomas Aquinas's Summa contra Gentiles

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Wenn ich in ein Museum gehe, dann für gewöhnlich und bevorzugt zunächst ohne einen Führer. Ich möchte mir selbst einen ersten unverstellten Eindruck von einem Bild, von einer Skulptur und auch von dem Raum machen, in dem sich diese Objekte befinden. Ich möchte mir nicht sogleich eine Leserichtung oder Auswahl vorgeben lassen, was ich unbedingt sehen muss und was ich ggf. auslassen kann. Auch bei mir entstehen natürlich Lücken. Selten sieht man auf diese Weise alles, und erst recht nicht alles, was die Kuratoren einer Ausstellung oder Sammlung oder andere Experten für bedeutsam halten. Aber ich entdecke womöglich Dinge, die eben diesen Experten entgangen sind, weil sie die betreffenden Objekte schon zu lange sehen und zu gut zu kennen meinen und so ihren eigenen vertrauten (oder soll ich sagen: ausgetretenen) Pfaden verhaftet bleiben.

Bisweilen aber ist uns ein Führer nützlich: etwa wenn wir uns schnell orientieren wollen, wenn wir - abgelenkt durch andere Dinge - keine eigene Aufmerksamkeit entwickeln können, oder wenn wir selbst nichts Neues mehr entdecken können, weil wir in unseren eigenen Seh- und Denkpfaden feststecken. Vor allem aber benötigen wir einen Führer, wenn wir weiter blicken wollen, als wir es selbst vermöchten. Einen großen Interpreten zu erleben, der uns ein Werk der bildenden Kunst, der Musik, der Literatur oder auch einen philosophischen Text meisterhaft aufschließt und ungeahnte Perspektiven eröffnet, ist ein wahres Vergnügen und stets ein großes Privileg.

Auch das vorliegende Buch bezeichnet sich als "Guide", als Führer durch eines der "Great Books" der Philosophie- und Theologiegeschichte: der Summa contra gentiles (Scg) des Thomas von Aquin, entstanden zwischen 1259 und 1265 vornehmlich in Paris. Thomas' erste theologische "Summa" ist ein kühnes und experimentelles Werk. Es entspringt zum einen seiner Unzufriedenheit mit dem akademischen Theologiestudium seiner Zeit, das sich an den vier Büchern der Sentenzen des Petrus Lombardus orientierte. Auch Thomas schrieb einen solchen Kommentar, der ihn zum Theologiemagister qualifizierte. Doch anstatt diesen zu überarbeiten, entwirft er einen eigenen neuen cursus theologiae, der nicht mehr den vorgegebenen Fragen der Sentenzenkommentare folgt und zudem in Kapitel statt in Quästionen eingeteilt ist. Zugleich antwortet die Scg auf die Frage, was Theologie unter den neuen wissenschaftlichen Standards an der Universität zu sein hat. Thomas setzt in der Scg erstmals das Konzept einer zweifachen Theologie um, entwickelt in seinem De Trinitate-Kommentar, den er parallel zur Arbeit am ersten Teil des ersten Buches der Scg schreibt. Diese zweifache Theologie entspricht der zweifachen Weise, Gott zu erkennen und von ihm zu sprechen: einer natürlichen Theologie unter den Bedingungen und in den Grenzen der natürlichen Vernunft und einer Offenbarungstheologie, die über die natürlichen Erkenntnisvermögen des Menschen hinausgeht und die von Gott spricht, wie er sich qua Offenbarung gezeigt hat. Diese Lehre einer doppelten Wahrheit und einer daraus folgenden zweifachen Theologie, die einander gleichwohl nicht widersprechen, vielmehr einander komplementär bedürfen, bildet den Kern des Theologieverständnisses des Thomas. Die Scg ist der erste systematische Entwurf einer solchen duplex theologia, der eine methodische Duplizität einer induktiven Methode einerseits, die von der natürlichen Vernunft und dieser zugänglichen Argumenten ausgeht, und einem deduktiven Vorgehen andererseits, das von den Glaubenswahrheiten ausgeht, entspricht. Thomas selbst ordnet die Bücher 1 bis 3 der Scg der ersten, das 4. Buch der zweiten Methode zu.

Ich habe Thomas selbst sprechen lassen, weil der "Guide" dies nur sehr allgemein tut. Anstatt auf Thomas wird in der Einleitung, die zugleich die grundlegenden Theologiekapitel paraphrasiert, auf Norman Kretzman verwiesen. Der Fokus liegt auf Kretzmans Verständnis von natürlicher Theologie aus der Perspektive der zeitgenössischen analytischen Religionsphilosophie. Doch scheint mir diese Annäherung Thomas' Anliegen nicht vollumfänglich zu treffen.

Was für ein Führer ist unser "Guide"? Ein wenig erinnert mich das Buch an einen Audioguide, der eher Resultate präsentieren als zu eigenem Sehen anregen will. Wie ein Audioguide definiert der Autor thematische Schwerpunkte - insgesamt sind es, sieht man von dem kurzen Einleitungskapitel ab, 17 Themen, die auf ganz unterschiedliche Weise behandelt werden: bisweilen ausführlich wie die Frage der Existenz Gottes oder der Gottesnamen (Kapitel 2 und 3), dann fast stichwortartig zusammengefasst, indem der Leser mit einer Liste von Thesen konfrontiert wird (Kapitel 8.4) oder mit den puren Konklusionen von Argumenten, ohne dass diese Argumente zuvor dargestellt worden wären (Kapitel 9.4). Es gibt zwischendurch sogenannte "general pictures" oder "big pictures", wenn der Autor sich an einem Überblick versucht (Kapitel 5.1, 12.1). Dann wiederum werden aus einem umfangreichen Fragenkomplex einzelne Beispiele ausgewählt (Kapitel 15.3). Mitunter scheut sich unser "Guide" nicht, die Argumentationsstruktur kräftig "umzubauen" wie etwa im 13. Kapitel, das sich der Frage widmet, ob, wie und unter welchen besonderen Bedingungen der Mensch als vernunftbegabtes Lebewesen sein letztes Ziel, seine vollendete Glückseligkeit erreicht und worin diese besteht. Das äußerst subtile Kapitel 48 des dritten Buches der Scg geht in einer summarischen Darstellung von zehn Kapiteln völlig unter; vor allem den dialektischen Umschlag der Argumentation, der in dem Aufweis der übernatürlichen Erfüllung des natürlichen Strebezieles gipfelt, kann nur entdecken und nachvollziehen, wer den Originaltext des Thomas selbst in die Hand nimmt.

Ferner fällt auf, dass der "Guide" nur wenig von dem historischen Argumentationskontext vermittelt, in dem die Scg steht. Dies gilt insbesondere für die Auseinandersetzung mit den arabischen Peripatetikern und Kommentatoren des Aristoteles wie Avicenna und vor allem Averroes, deren Positionen zur Intellektlehre Thomas ebenso ausführlich diskutiert wie die einiger spätantiker Kommentatoren, etwa Alexander von Aphrodisias (Scg II, c. 60-78). An die Stelle des historischen Argumentationskontextes - Thomas antwortet auf aktuelle Probleme und Fragen und vermittelt so einen höchst lebendigen Eindruck von den Debatten um die Mitte des 13. Jahrhunderts an der Universität Paris - tritt ein Vergleich mit Descartes (Kapitel 11.3), der mir in seiner Allgemeinheit aber nicht sehr aufschlussreich scheint. Auf ähnliche Weise finden sich immer wieder Versuche, sich einer Fragestellung aus der Perspektive gegenwärtiger vorwiegend angelsächsischer philosophischer Debatten zu nähern mit der Gefahr, Thomas eigene Argumentation von diesen ausgetretenen Interpretationspfaden her zu rekonstruieren.

Überhaupt ist der gewählte Leitfaden ganz und gar theologisch. Dahinter verschwinden fast die philosophischen Themen: etwa die ausführliche Auseinandersetzung mit den griechischen und arabischen Autoren zur Frage der Ewigkeit der Welt, zur Intellektlehre, zum Verhältnis von Seele und Körper, zur Frage des letzten Zieles, etc.

Die Kommentare sind nicht systematisch. Sie finden sich bisweilen im Text, wenn zu bestimmten Stellen etwa Kenny, Swinburne oder McCabe ausführlich zu Wort kommen, sowie von Fall zu Fall im Fußnotenapparat, der sich im Anhang befindet. Im Grunde aber erfüllt der vorliegende "Guide" nicht den Anspruch eines Kommentars im eigentlichen Sinne. Vielmehr sind dies persönliche Erläuterungen des Verfassers, die wahrscheinlich - wie das Buch überhaupt - ihren Ursprung in Seminaren oder Vorlesungen haben. Die beigezogene Literatur ist ausschließlich Englisch - schon dies zeigt die Beschränkung des Kommentarhorizonts.

So stellt sich abschließend nochmals die Frage, um was für einen Führer es sich bei dem vorliegenden Buch handelt. Ohne Zweifel kennt Brian Davies seinen Thomas; ohne Zweifel kennt er die Scg und will dieses Wissen weitergeben an Leser, die vor einem solchen Werk zunächst mit Ehrfurcht stehen, gebannt von der Fülle der dort angesprochenen Fragen und dem schieren Umfang des Textes. Wie soll man beginnen? Wie soll und kann ich mich in einem Museum wie dem Louvre oder der Alten Pinakothek oder auf einer Ausstellung wie der Biennale in Venedig oder der documenta in Kassel zurechtfinden? Mein Vorschlag: Indem man einfach mit dem nächst besten Bild oder Objekt, das meine Aufmerksamkeit erweckt, beginnt. In gleicher Weise gilt: Lesen Sie das Kapitel der Scg, dessen Frage Sie neugierig macht! Zum Glück gibt es eine sehr gute deutsche Übersetzung in einer bilingualen Ausgabe bei der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft (die mit diesem Projekt ihrer ursprünglichen Idee treu geblieben ist) zu einem sensationellen Preis, der günstiger ist als das besprochene Buch bei Oxford University Press. Da sollte die Entscheidung leicht fallen!

Andreas Speer