Rezension über:

William O. Duba: The Forge of Doctrine. The Academic Year 1330-31 and the Rise of Scotism at the University of Paris (= Studia Sententiarum; Vol. 2), Turnhout: Brepols 2017, XI + 444 S., 13 s/w-Abb., ISBN 978-2-503-57327-4, EUR 85,00
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Rezension von:
Andreas Speer
Thomas-Institut, Universität zu Köln
Redaktionelle Betreuung:
Ralf Lützelschwab
Empfohlene Zitierweise:
Andreas Speer: Rezension von: William O. Duba: The Forge of Doctrine. The Academic Year 1330-31 and the Rise of Scotism at the University of Paris, Turnhout: Brepols 2017, in: sehepunkte 19 (2019), Nr. 6 [15.06.2019], URL: https://www.sehepunkte.de
/2019/06/30874.html


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William O. Duba: The Forge of Doctrine

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In einer Zeit, in der sich der globale Blick auf die Geschichte wieder eines besonderen Interesses erfreut und die Fragen großer Narrative und Epochen diskutiert werden, mutet eine Studie, die auf einem Manuskript basiert, anachronistisch an. Diese Beobachtung verschärft sich aus der Sicht eines zumeist auf die "großen" Fragen und klassischen Autoren zugespitzten Philosophie- und Theologiediskurses, der die historische Dimension - wenn überhaupt - allenfalls abstrakt und in einer idealisierten Gestalt behandelt. Doch gerade vor dem Hintergrund dieser Tendenzen der globalen und der idealisierten Abstraktion ist die vorliegende Studie ein Musterbeispiel und ein Plädoyer für die minutiöse und akribische historisch-philologische Erforschung einer konkreten Debatte anhand einer mit höchster Präzision erschlossenen Quelle, die zum Ausgangspunkt einer spannend erzählten Diskursgeschichte wird.

Zugleich ist diese Geschichte eines im allgemeinen wenig bekannten Pariser Franziskanermagisters William of Brienne (Guillemus de Brena OFM), der 1330 und 1331 an der theologischen Fakultät der Sorbonne zweimal die Sentenzen las, und eines Prager Manuskripts (MS Praha, NKCR VIII.F.14), das die Reportatio, also die Mitschrift aus der Hand eines Zuhörers dieser Vorlesungen enthält, ein Beleg dafür, dass die fortschreitende Digitalisierung mittelalterlicher Quellen nicht zu einem Bedeutungsverlust der Handschriften und der Bibliotheken führt, sondern ganz im Gegenteil einen neuen "material turn" angeregt hat, da die Qualität und die Verfügbarkeit der Digitalisate Forschungsfragen stimuliert haben, die sich auf der Grundlage der alten Mikrofilme oftmals gar nicht erst stellten. Das Manuskript zeigt sich als eine komplexe Quelle, die wie im Fall des Prager Manuskripts die ältesten bekannten Aufzeichnungen eines gesamten Universitätskurses bietet und so einen privilegierten Einblick in den Alltag an der Universität von Paris in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts ermöglicht.

William Duba heftet sich mit kriminalistischem Scharfsinn an die Spuren seines Helden William of Brienne und zeigt, wie dieser als akademischer Lehrer und Gelehrter die Philosophie und Theologie des Johannes Duns Scotus ca. 30 Jahre nach dessen Lectiones Parisienses, den finalen Pariser Sentenzenvorlesungen, und somit die Scotische Lehre für seine Studenten rekonstruiert und gegenüber seinen Kollegen verteidigt hat. Auf diese Weise werden wir zu Zeugen der Formierung einer der einflussreichsten Denkschulen des späten Mittelalters: des Scotismus, und das nicht abstrakt ideengeschichtlich, sondern rückgebunden an den konkreten universitären Alltag. Das Buch zeigt am und im Material, wie scholastische Magister ihre Ideen und Fragen entwickelten, kommunizierten und disputierten. Auf diese Weise wird die vorliegenden Untersuchung zu einer "case study" in Sachen Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte. Der Vorteil der gewählten Methode liegt auf der Hand: die rekonstruierten Anfänge der Formation der Scotistischen Schule an der Sorbonne entspringen nicht dem Kopf des Interpreten, sondern haben ihre starke empirische Evidenz in dem zugrundeliegenden Manuskript, das sich als ein wahrer Glücksfund erweist.

Die Studie belegt zugleich das stark gewachsene Interesse an den Sentenzenkommentaren und deren Neubewertung als eines der zentralen wissenschaftlichen Diskurse an Universitäten, wie nicht nur das vielbändige Repertorium commentariorum in Sententias Petri Lombardi zeigt, das den Sentenzenkommentar des William of Brienne in seinem ersten Band aufführt, sondern vor allem die Vielzahl an neueren Studien, Kompendien und Forschungsprojekten zu Sentenzenkommentaren. Nicht zuletzt bezeugt auch die neu gegründete Reihe der "Studia Sententiarum", als deren zweiter Band diese Studie erscheint, dieses Forschungsinteresse. Damit einher geht ein vorurteilsfreies Interesse an theologischen Diskursen, die oftmals Ort bahnbrechender Ideen waren: im Falle der Scotistischen Schule etwa mit Blick auf die Willenslehre, die Epistemologie, und Fragen der Kontingenz und der Potentialität.

William Dubas Studie erschließt die zugrundeliegende Quelle in mehreren Schichten. Ausgehend von einer sorgfältigen Analyse des zugrundeliegenden Prager Kodex rekonstruieren die folgenden Kapitel das Leben und die Karriere eines Bachelors der Sentenzen in Paris, das äußerst komplexe Disputationswesen, die Sentenzenvorlesungen selbst, Williams Scotismus und schließlich seine feierliche Bestellung (inceptio) zum Magister theologiae.

Der zweite Teil des vorliegenden Buches besteht aus acht Appendices, die umfangreiches Quellenmaterial in mustergültigen Editionen vorlegen: die Liste der Lectiones, die Principia und ausgewählte Lectiones aus dem Sentenzenkommentar des William of Brienne, sein Principium in Theologia (d.h. die feierliche Rede anlässlich der inceptio) und eine Quaestio aus dem vierten Buch des Sentenzenkommentars seines Ordensbruders Franciscus de Marchia. Einige Abbildungen geben einen Eindruck von dem Manuskript. Der Leser hat also die Möglichkeit, die im ersten Teil vorgelegten Interpretationen anhand des vorgelegten Quellenmaterials nachzuverfolgen.

Der Lebendigkeit des Materials entspricht die Lebendigkeit der Darstellung. Es gelingt William Duba in seiner Studie mustergültig, die Leser in die Welt seines Prager Manuskripts hineinzuziehen und somit in die Debatten an der Pariser Universität. Man muss kein Spezialist sein, um dieses Buch mit Gewinn zu lesen. Ein größeres Kompliment kann man einem so speziellen und forschungsnahen Buch nicht machen. Tauchen Sie mit William of Brienne und William Duba ein in die Welt der mittelalterlichen Universität in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts! Sie werden dort mehr erfahren und lernen als in vielen Überblickswerken.

Andreas Speer