Thorsten Beigel / Sabine Mangold-Will (Hgg.): Wilhelm II. Archäologie und Politik um 1900, Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2017, 140 S., 11 s/w-Abb., ISBN 978-3-515-11557-5, EUR 39,00
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Die Begeisterung Wilhelms II. für die Archäologie ist in der Forschungsliteratur vielfach angemerkt worden. Die großen Biographien von John Röhl und Lamar Cecil thematisieren sie zwar, nehmen aber keine tiefer gehende Einordnung in die politische Vorstellungswelt des Deutschen Kaisers vor; andere haben dessen Hingabe an die Spatenwissenschaft lediglich als Hobby und Zeitvertreib aufgefasst. [1] Der von Thorsten Beigel und Sabine Mangold-Will herausgegebene Sammelband will dagegen diese Begeisterung "als historisch relevanten Aspekt von Wilhelms Persönlichkeit und Herrschaftspraxis ernst nehmen". Sie sehen vor allem "legitimatorische Motive" (7) im kaiserlichen Engagement für die archäologische Erschließung des alten Orients. Daneben fragen die Herausgeber nach "den innen- wie außenpolitischen Dimensionen einer wissenschaftlichen Ausgrabungstätigkeit" (8), räumen aber ein, dass sich die Forschungsliteratur seit einiger Zeit intensiver mit diesem Thema beschäftigt. [2]
Der Verbindung von Archäologie und Kolonialpolitik widmet sich Suzanne Marchand im einzigen englischsprachigen Artikel des Bandes, "German Archaeology in the Wilhelmine Era: An Overview". Sie beschreibt, dass in den 1880er-Jahren, als Deutschland die Weltbühne der archäologischen Ausgrabungen betrat, die besten Plätze (Griechenland, Italien und Ägypten) schon vergeben waren, und Deutschland seinen archäologischen "Platz an der Sonne" schließlich im Osmanischen Reich fand. Zusammen mit der Gründung der staatlich geförderten Deutschen Orientgesellschaft (DOG) im Jahre 1898 trat dies eine Welle neuer Ausgrabungen los, schließlich waren nun Geld und politischer Rückhalt vorhanden.
Einen Einblick in die monarchische Vorstellungswelt des Kaisers, gewährt der Aufsatz "Wilhelm II. und die Gelehrten. Aspekte einer Beziehungsgeschichte" von Matthias Steinbach. In Doorn machte ihn der Völkerkundler Leo Frobenius mit der "Hamiten-These" vertraut, wonach Franzosen und Engländer niederen "Negern und Berbern" in Nordostafrika entstammten, die Wurzeln der Deutschen hingegen in einer ostafrikanisch-okzidentalen bis Indien reichenden, höherwertigen Sonnenkultur lägen, die bereits die Idee eines Gottkönigtums in sich trug. In Wilhelms Interpretation wurde hier der zentrale kulturelle und politische Gegensatz zwischen den konkurrierenden Großmächten deutlich: Ein morgenländisch begründetes preußisches Königtum stand dem abendländischen Konstitutionalismus und Parlamentarismus gegenüber.
Die folgenden drei Artikel beschäftigen sich mit der Orientreise Kaiser Wilhelms II. im Herbst 1898. Den Auftakt machen Dieter Vieweger, Julia Serr und Marcel Serr mit dem Aufsatz "'Archäologie ist ein extrem politisches Geschäft'. Die Palästina-Reise Kaiser Wilhelms II.". Sie weisen darauf hin, dass "Wilhelms Reise in einen historisch-archäologischen Kontext eingebettet war, der auf einer symbolischen Ebene [...] den Anspruch des Kaisers auf die Fortführung und Kulminierung einer Traditionslinie eines religiös fundierten, universalen Kaisertums unterstreichen sollte." (51)
Sabine Mangold-Wills Beitrag "Die Orientreise Wilhelm II. Archäologie und die Legitimierung einer hohenzollernschen Universalmonarchie zwischen Orient und Okzident" knüpft hier an und führt den in der Einleitung angesprochenen "legitimatorischen" Ansatz weiter aus: Wilhelm hoffte mithilfe der Archäologie zu beweisen, dass die Herrschaft der Hohenzollern einen "historisch-genetisch legitimierten Anspruch auf imperiale Herrschaft in einem um den Orient erweiterten Mitteleuropa besaß." (54) Die Ausgrabungen sollten Wilhelms Idee der Übertragung des Gottesgnadentums und des universal-monarchistischen Gedanken aus Mesopotamien nach Germanien, und damit die eigene Auserwähltheit und den Anspruch auf universale Herrschaft untermauern.
Mit dem persönlichen Verhältnis des Deutschen Kaisers zur Archäologie befasst sich Lars Petersens Aufsatz "Kaiser Wilhelm II. und die Ausgrabungen in Baalbek". Wilhelm erachtete die Archäologie als praktische Wissenschaft, mit der sich die eigene nationale Macht und Größe im In- und Ausland darstellen ließ, denn "die Monumentalität der antiken Ruinen gepaart mit altorientalischen Wurzeln passte [...] hervorragend in die imperiale Vorstellungswelt des deutschen Kaisers" (74).
Der eigenen Forschung des Kaisers widmet sich der Beitrag "Der Stolz des Dilettanten: Wilhelm II. und die Gorgo" von Thorsten Beigel. Im Bildnis der Gorgo (Medusa) sah Wilhelm eine von den Griechen übernommene semitische Gottheit, also einen Beleg für seine These eines Kulturtransfers von Orient zu Okzident. Diese fachlich kaum zu haltende These, wurde von den Gelehrten, mit denen der Kaiser innerhalb der Doorner Arbeitsgemeinschaft (DAG) diskutierte, nicht infrage gestellt. Offensichtlich herrschte auch hier der "Königsmechanismus", den John Röhl als grundlegende Konstante von Wilhelms Herrschaft beschrieben hat. [3]
Einen detaillierten Einblick in das Verhältnis Kaiser Wilhelms II. zu den Gelehrten leistet der Aufsatz "Wilhelm II. und die 'Doorner Arbeitsgemeinschaft'" von Christoph Johannes Franzen, ein Thema das die historische Forschung bisher nur am Rande wahrnahm. Obwohl Wilhelm archäologischer Laie war, suchten etliche der Fachleute die Nähe des Kaisers, um beruflich voranzukommen oder um dessen finanzielle Unterstützung zu erhalten. Dennoch waren die Themen bei den Treffen nicht zwangsläufig auf den Kaiser ausgerichtet. Während Thorsten Beigel im vorangegangenen Artikel noch konstatiert, "die Doorner Arbeitsgemeinschaft [...] sorgte für eine wechselseitige Bestätigung von mitunter esoterischen Positionen" (98), will Franzen ihr "einen wissenschaftlichen Anspruch [...] nicht absprechen." (114)
In ihrer "Schlussbetrachtung. Wilhelm II. - Archäologie als wissenschaftliche Herrschaftslegitimation in der Ambivalenz der Moderne" betont Sabine Mangold-Will, dass die Archäologie für Wilhelm ein Instrument war, mit dem er seine Herrschaftslegitimation wissenschaftlich zu fundieren suchte. Er trennte dabei nicht die Wissenschaft von der Religion, sondern suchte nach ihrem "In-Eins-Fallen". So kommt die Autorin zu der abschließenden Erkenntnis: "Durch das immer tiefer nach unten Graben zumal im 'Orient', also jener Welt, aus der die eigene, die christliche Religion und mutmaßlich auch die Monarchie kamen, schuf sich Wilhelm eine Leiter, die ihn immer weiter nach oben, näher zu Gott brachte." (126)
Die fundierte Einbettung archäologischer Erkenntnisse in die Gedankenwelt des Deutschen Kaisers ist das hervorstechende Merkmal dieses Sammelbandes. In dieser Wissenschaft fand er die vermeintliche Bestätigung der historischen Legitimität seiner Herrschaft; in der Beschäftigung mit ihr treten Wilhelms Selbstüberschätzung und seine esoterische Überhöhung des deutschen Kaisertums hervor. Damit ergänzt das Buch die Forschung zum letzten deutschen Kaiser mit der Archäologie um einen bisher vernachlässigten Bestandteil von Wilhelms Vorstellungswelt.
Anmerkungen:
[1] Röhl, John C.G.: Wilhelm II. 3 Bd., München 1993-2008; Cecil, Lamar: Wilhelm II. 2 Bde, Chapel Hill / London 1989 / 1996. Vgl. auch Simon, Christian: Kaiser Wilhelm II. und die deutsche Wissenschaft, in: Röhl, John C.G. (Hg.): Der Ort Kaiser Wilhelm II. in der deutschen Geschichte, München 1991, 91-110.
[2] Vgl. beispielsweise Marchand,Suzanne: Down from Olympus. Archaeology and Philhellenism in Germany 1750-1970, Princeton 1996.
[3] Vgl. Röhl, John C.: Kaiser Wilhelm II., Großherzog Friedrich I. und der 'Königsmechanismus' im Kaiserreich, in: Historische Zeitschrift 236 (1983), 539-577.
Axel Meier