Udo Di Fabio / Johannes Schilling (Hgg.): Die Weltwirkung der Reformation. Wie der Protestantismus unsere Welt verändert hat, München: C.H.Beck 2017, 213 S., 9 s/w-Abb., 2 Kt., ISBN 978-3-406-70078-1, EUR 16,95
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Der Endspurt des Reformationsjubiläums läuft. Die einen atmen auf: Bald ist es geschafft, endlich. Die anderen bedauern dagegen das nahende Ende der festiven Euphorie. Beiden Gruppen gemeinsam ist vielleicht die Beschäftigung mit der Frage, was danach kommen mag, wenn die breite Öffentlichkeit mit dem Schlusspfiff der medialen Omnipräsenz das Interesse verliert und schließlich der 'graue Alltag' wieder einkehrt. Was mag dann überwiegen? Übersättigung oder Lust auf mehr? Und was bleibt zurück? Ein durch zeitgeist- und massentaugliche Inszenierungs- und Marketingmechanismen geschaffener Trümmerhaufen? Oder doch ein durch die Feierlichkeiten in ihren konkreten Auswirkungen geschaffenes Umfeld, an dessen Impulse sich irgendwie konstruktiv anknüpfen ließe? Es ist sicher noch zu früh, derartige Fragen zu beantworten; mehr oder weniger vorsichtige Prognosen sind jedoch längst auszumachen und bilden den Hintergrund der aktuellen, nicht selten hitzigen Debatten rund um die Bewertung des Jubiläums. Dabei treten nun seit längerem schwelende Differenzen und Verwerfungen offen zutage, die sich dank der publizistischen Überversorgung der letzten Jahre angekündigt haben und die unter so manchen Beteiligten zu regelrechten Eruptionen der Enttäuschung führen.
Mitten in diese Auseinandersetzungen auf der Zielgeraden stößt der hier anzuzeigende Band, und zwar offenkundig bewusst. Er versammelt neben einer Einleitung acht Beiträge namhafter Autorinnen und Autoren, die Verlauf, Gegenstände, Entfaltung und Einordnungsmöglichkeiten der Reformation als weltgeschichtlichem Ereignis in den Blick nehmen und sich in Aufbau, Formulierung und Gehalt zwar vornehmlich an ein breiteres Publikum richten, zugleich aber spürbar auch die noch nicht ermatteten Fachkreise ansprechen wollen. Bibliographien zur weiterführenden Lektüre sind den einzelnen Aufsätzen beigegeben; ein Herausgeber- und Autorenverzeichnis, ein Verzeichnis der Bildnachweise und ein Personenregister runden den Band ab. Schon an dieser Stelle sei vorweggenommen: Trotz allseits - und sicher nicht zu Unrecht - beklagter Übersättigung lohnt es sich auch und gerade für letztgenannte Adressatenkreise, den Band zur Hand zu nehmen, dessen Aufsätze nur auf den ersten Blick Altbewährtes, bei genauerem Hinsehen hingegen Bedenkenswertes zu bieten haben. Dass und warum es sich so verhält, soll im Folgenden kursorisch aufgezeigt werden; die getroffene Auswahl verdankt sich dabei allein den Denk- und Frageinteressen des Rezensenten.
Bereits die knappe Einleitung Udo Di Fabios, des Vorsitzenden des Wissenschaftlichen Beirats zur Vorbereitung des Reformationsjubiläums, lässt bezüglich des Anliegens des Bandes aufhorchen (7-12): "Wenn Gedenktage 'begangen' werden, sagt das häufig mehr über die jeweilige Gegenwart als über das historische Ereignis. Schon aus diesem Grund steht die Wissenschaft in einer Spannungslage zu den medialen und politischen Aktionen aus Anlass der Reformation, weil Geschichtspolitik zwar Politik sein mag, aber gewiss nicht historische Forschung ist. In einer freien Gesellschaft ist die Kluft allerdings nicht unüberbrückbar" (7). Diese grundsätzlichen Annahmen dürften für die Ausdauer mitursächlich sein, mit der prominente Persönlichkeiten der Reformationsforschung ihre Position gegen den von Politik und Kirche in bemerkenswertem Schulterschluss forcierten Grundton der Feierlichkeiten vortragen. So wird auch Thomas Kaufmann nicht müde, aus dezidiert historisch-theologischer Sicht seine Deutung der Reformation in erster Linie gegen die durchschaubar relativistischen Tendenzen erklärt 'ökumenischer' Vereinnahmung des Jubiläums in Anschlag zu bringen. Sein umfassender Überblick (13-66) vertritt die Ansicht, dass es sich bei dem Kern der theologischen Auf- und Durchbrüche Luthers trotz äußerlich-terminologischer Parallelen eben nicht um schlichte, bestenfalls modifizierende Reformulierungen älterer Reformbestrebungen handelte: "Das Kernanliegen seiner sogenannten Rechtfertigungslehre, nämlich dass der Mensch aufgrund des Glaubens an Christi Versöhnungstat von Gott als 'gerecht' angesehen werde, nicht durch eigene fromme Willensbekundungen und Leistungen, war weder im Horizont der Bibel noch einschlägiger 'frömmigkeitstheologischer' Traditionen 'an sich' originell oder bahnbrechend; es erwies sich aber als solches, als Luther mit dem Ablass ein zentrales Element zeitgenössischer kirchlicher Leistungsfrömmigkeit infrage zu stellen begann" (32). Entsprechend wirkmächtig fielen die Impulse und die in ihnen wurzelnden Dynamisierungsprozesse aus, die von dort aus das lateinische Christentum über die sich dann bald verfestigenden Konfessionsgrenzen hinweg erfassten und "ohne die die westliche Zivilisation schwerlich entstanden wäre" (65).
Zur Erklärung dieser Wirkmacht stellt Stefan Rhein die Frage nach der Bedeutung der damals wie heute wenigstens größenmäßig wenig beeindruckenden Stadt Wittenberg für die Entstehung und Entwicklung der Reformation (67-72). "Die Antwort mag verblüffen: Es ist gerade die Kleinheit der Stadt, die das reformatorische Geschehen entscheidend beeinflusst hat" (70). Besonders zusammen mit der jungen, reformorientierten Universität ist in der überschaubaren sozioökonomischen und -kulturellen Vielfalt der Residenzstadt der Grund dafür zu suchen, warum es gelang, "aus Wittenberg den von allen getragenen Ursprungsort der Reformation zu machen" (71), weshalb sich die Behauptung aufstellen und stützen lässt: "Ohne Wittenberg keine Reformation" (72). Diese wiederum wurde und wird bekanntlich nur allzu gerne in modernitätsteleologischer Stoßrichtung in Anspruch genommen, wogegen Detlef Pollack in die Schranken tritt (81-118). Er wagt trotz verbreiteter gegenläufiger Trends in der neueren Forschung und in bester ideengeschichtlicher Tradition die universalgeschichtliche Fragestellung "nach der Entstehung der modernen Welt und dem Beitrag des Protestantismus zu ihrer Herausbildung" (81). Die einschlägigen, argumentativ kontrapunktischen Entwürfe Trutz Rendtorffs und Brad Gregorys als Beispiele für fortschritts- bzw. verfallsgeschichtliche Einordnungsversuche der Reformation aufnehmend, gelangt Pollack zu der These, "dass die Reformation zwar einen Entwicklungsschub auf dem Wege zur Moderne auslöste, der Durchbruch der Moderne sich allerdings erst im 18. Jahrhundert vollzog" (88).
Das wird nicht zuletzt dann deutlich, wenn man die vielschichtigen Gründe für die weltweite Verbreitung des Protestantismus und die vielfältigen Kulturkreise in den Fokus nimmt, in denen er wirksam wurde und bis heute ist, wie der Beitrag von Dorothea Wendebourg belegt (119-145), der sich auch als inhaltlich-thematische Fortsetzung der Ausführungen Kaufmanns lesen lässt. "Mit der Reformation kam das Ende Lateineuropas als eines allumfassenden Corpus Christianum. Seit der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts war der Kontinent im Gefolge von Reformation und Gegenreformation unwiderruflich mehrkonfessionell" (120), obgleich es lange dauern sollte, bis sich die einzelnen konfessionellen und politischen Größen der so genannten Frühen Neuzeit damit abfinden sollten. Denn "das Ideal - so bei den Protestanten -, zugleich das realpolitische Ziel - so bei den Katholiken - war die Überwindung des mehrkonfessionellen Status quo. Die religiöse Lage Europas war insofern nicht stabil" (121). Gerade deshalb fanden die reformatorischen Konfessionskirchentümer und Gemeinschaften ihren Weg in die Welt; wo sie sich dauerhaft etablieren konnten, geht ihre "Ausstrahlung [...] durch Schulen, Universitäten, Krankenhäuser und Medien freilich meist weit über die eigene Mitgliedschaft hinaus und macht sich im Ganzen der jeweiligen Gesellschaft bemerkbar" (144), und zwar ohne dass dieser heutige Zustand sowie der Weg dorthin in und mit der Reformation vorgezeichnet gewesen wären. Um es in die Worte Di Fabios in seiner Studie zur "Dialektik der Neuzeit im Geist der Reformation" (146-169) zu fassen: "Die Neuzeit kann nur angemessen verstehen, wer sie nicht eindimensional, nicht linear erzählt, sondern sie als einen Prozess konstruktiver Ambivalenzen und Widersprüche, kurz als dialektisch, versteht" (148). Davon unbenommen ist freilich die Tatsache, dass die reformatorischen Impulse Entwicklungsprozesse freisetzten, die unsere Kultur entscheidend prägen sollten, wie Christopher Strohm am Beispiel von "Reformation und Recht" herausstellt (170-194). So zeitigte die Reformation u. a. "indirekte und keineswegs intendierte Folgewirkungen [...] auf dem Gebiet der Rechtsetzung und Rechtswissenschaft" (171), die insgesamt "zu einem Aufschwung der zivilrechtlichen Ausbildung an den Universitäten" führten, der sich seinerseits als Emanzipation von "theologischen Grundentscheidungen und Wahrheitsansprüchen" beschreiben lässt (187).
Dennoch sollten wir nicht so tun, erklärt Di Fabio, als hätten die Reformatoren "Freiheit, Gleichheit und Demokratie auf ein schnurgerades Gleis von Modernisierung und Aufklärung gesetzt" (165). Das mag man nun für einen Allgemeinplatz halten oder nicht - unverzichtbar ist angesichts der unleugbaren Apperzeptionssteuerung im Zuge des Jubiläums der schiere Hinweis darauf, dass die Ermöglichung unserer liebgewonnenen Selbstverständlichkeiten mitnichten die leitende Handlungsmotivation Luthers, Zwinglis, Calvins oder irgendeines anderen Menschen vormoderner Zeiten waren. Nicht wenige Jubiläumsverantwortliche sehen das offenbar völlig anders, was den Wert einer Publikation nur zusätzlich unterstreicht, die die reifen Früchte geduldiger wissenschaftlicher Beschäftigung mit den in ihr versammelten Themenbereichen präsentiert. Neben und in dem ausladenden Chor der Stimmen, die meinen, sich öffentlichkeitswirksam zu Wurzeln, Verlauf und Wert der Reformation äußern zu müssen, ist dem Band somit eine reiche Leserschaft zu wünschen - zur weiteren Diskussion anregende Gedanken bietet er jedenfalls zuhauf.
Christian Volkmar Witt