Marcel Boldorf: Governance in der Planwirtschaft. Industrielle Führungskräfte in der Stahl- und Textilbranche der SBZ/DDR (1945-1958) (= Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte. Beiheft; Beiheft 18), Berlin / Boston: De Gruyter Oldenbourg 2015, 281 S., ISBN 978-3-11-035512-3, EUR 69,95
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Mit der Errichtung der Zentralverwaltungswirtschaft wurden in der SBZ/DDR die Eigentumsverhältnisse in der Wirtschaft radikal verändert. Nachdem der staatliche Sektor durch die frühzeitige Neuordnung in der Grundstoff- und Schwerindustrie bereits vor der ostdeutschen Staatsgründung schlagartig an Bedeutung gewonnen hatte, war die private Eigentumsform in der Landwirtschaft nur noch bis Ende der 1950er Jahre und im Handwerk bis Anfang der 1970er Jahre vorhanden. Das klassische Unternehmertum existierte schon bald nicht mehr, denn der ordnungspolitische Kurswechsel von der Markt- zur Planwirtschaft ging auch mit einem Elitenwechsel einher. Die Zwangsmaßnahmen der SED, wie etwa die Bodenreform und die sogenannte Industriereform, hatten dazu geführt, dass bis Ende der 1940er Jahre zahlreiche Großgrundbesitzer, Bauern und Unternehmer in den Westen Deutschlands geflohen waren. Anfangs kam diese Entwicklung den ostdeutschen Kommunisten entgegen, da die frei werdenden Positionen teilweise mit Arbeitern neu besetzt werden konnten. Doch schon bald zeigte der Wechsel der wirtschaftlichen Funktionselite negative Folgen für den angestrebten ökonomischen Wiederaufbau. Die SED-Führung musste erkennen, dass auf Expertenwissen in Leitungspositionen nicht ohne weiteres verzichtet werden konnte.
Marcel Boldorf untersucht am Beispiel der Stahl- und Textilbranche den Elitenwechsel und die kommunistische Kaderpolitik zwischen Kriegsende und Ende der 1950er Jahre. Ein Großteil der Manager ostdeutscher Stahlwerke aus dem aufgelösten Flick-Konzern hatte sich bei Kriegsende rasch in den Westen abgesetzt. Boldorf kann zeigen, dass die nachfolgende Entnazifizierungspolitik nur geringe Auswirkungen auf die Zusammensetzung der Betriebsleitungen hatte, denn die sowjetische Besatzungsmacht und die SED handelten oftmals ökonomisch rationaler, als auf den ersten Blick zu vermuten war. Während kaufmännische Direktoren aus der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) frühzeitig flüchteten, konnten Mitglieder der technischen Leitung, die im Nationalsozialismus in der Regel nicht an exponierter Position tätig gewesen waren, zunächst in ihren Funktionen bleiben. Die Darstellung ist chronologisch aufgebaut und besteht aus vier Teilen, wobei die gängige Zäsurbildung (Herbst 1945, 1948 und 1950) übernommen wird. Der Verfasser knüpft an das unternehmensgeschichtliche Governance-Konzept zur Analyse der "politischen Kräfteverhältnisse innerhalb und außerhalb der Betriebe" (11) an, ohne aber den Begriff im Hinblick auf seine Validität für die planwirtschaftliche Ordnung der SBZ/DDR systematisch zu überprüfen. Die Quellengrundlage ist breit und umfasst sowohl Akten der Zentral-, Landes- und Kommunalebene als auch des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR. Darüber hinaus hat der Verfasser einige Betriebsarchive ausgewertet (Stahl- und Walzwerke Hennigsdorf und Riesa, Maxhütte Unterwellenborn, VEB Leipziger Wollgarnfabrik sowie VEB Mitteldeutsche Kammgarnspinnerei).
Boldorf untersucht zunächst die wirtschaftspolitische Entwicklung in der SBZ in den ersten Nachkriegsmonaten und die daraus resultierenden betrieblichen Folgen. Dabei geht er nicht nur auf die Flucht von Unternehmern und den Machtkampf in den vermeintlich "herrenlosen Betrieben" ein, sondern thematisiert auch die Auswirkungen von Demontagen und Reparationen für die Handlungsspielräume der Unternehmensleitungen. Im Mittelpunkt des nächsten Kapitels steht die "Treuhandphase", die mit dem Beginn der Sequestrierung Ende Oktober 1945 einsetzte und mit der endgültigen Verstaatlichung der Industrie im April 1948 endete. Dabei betont der Autor vor allem zwei parallel laufende Prozesse, welche die Betriebsführung beeinflussten: Erstens verlangsamte sich der Personalwechsel in den Führungsetagen der Betriebe - anders als in den öffentlichen Verwaltungen. Zweitens wurde die Umgestaltung der Wirtschaftsordnung in dieser Phase noch nicht abgeschlossen, obwohl viele Weichenstellungen bereits 1945 vorgenommen worden waren. Mit dem Abzug sowjetischer Generaldirektoren, die sich häufig für den Verbleib der alten Betriebsleitungen eingesetzt hatten, erhöhte sich nämlich sukzessive der Einfluss der SED-Parteiorgane in den ostdeutschen Ländern auf personalpolitische Entscheidungen. Anschließend skizziert Boldorf den Ausbau zentralstaatlicher Leitung und Kontrolle durch den Halbjahresplan 1948 und den Zweijahresplan 1949/50, die das Verhältnis zwischen Staat und Wirtschaft nachhaltig veränderten. Mit der Errichtung der Planwirtschaft wurde die in der SBZ vollzogene Enteignung nicht nur festgeschrieben, sondern in gewisser Weise noch fortgeführt. Wichtige Instrumente waren die Zentrale Kontrollkommission bzw. nach der DDR-Gründung die Zentrale Kommission für Staatliche Kontrolle, die für die rigide Umsetzung der 1948 erlassenen Wirtschaftsstrafverordnung zuständig war, und die Zentrale Parteikontrollkommission, mit der die SED unter anderem gegen Parteimitglieder in den volkseigenen Betrieben vorgehen konnte. Darüber hinaus gelang es der Parteiführung, die eigene Machtstellung in den Betrieben durch die Betriebsparteiorganisationen auszubauen. Im letzten Kapitel untersucht der Autor schließlich noch die Kaderpolitik in der Stahl- und Textilbranche in den 1950er Jahren. Obwohl die planwirtschaftliche Ordnung den verstaatlichten Betrieben Verfügungsrechte entzog, konnten diese "nie vollständig zentralisiert werden" (223). Dabei thematisiert Boldorf insbesondere die Verteilung des sogenannten Direktorenfonds (finanzielle Mittel, die den Betrieben für soziale und kulturelle Zwecke zur Verfügung standen) und die Zuständigkeiten für die betriebliche Personalpolitik.
Der Autor entwirft ein differenziertes Bild der kommunistischen Kaderpolitik in den Betrieben der Stahl- und Textilbranche, die in der SED-Wirtschaftspolitik nicht denselben Stellenwert besaßen und deshalb bei der Verteilung von Investitionsmitteln unterschiedlich behandelt wurden. Bei der Besetzung von Führungspositionen schreckte die SED im Übrigen nicht davor zurück, belastetes Personal zu übernehmen. So war der Technische Direktor des Stahl- und Walzwerks Brandenburg, Friedrich Franz, nicht nur NSDAP-Mitglied, sondern auch in der deutschen Kriegswirtschaft tätig gewesen. Da Techniker für den Wiederaufbau dringend benötigt wurden, hätten sich "Entnazifizierungsentscheidungen gegen den Pragmatismus" selten durchgesetzt (251). Boldorf verdeutlicht, dass der Übergang zur Zentralverwaltungswirtschaft nach 1945 in mehreren Etappen und nicht konfliktlos verlief. Da die Wirtschaftsplanung bis Ende 1946 "rudimentär" war (23), eröffneten sich Handlungsspielräume für die Betriebsleitungen, die auch in den 1950er Jahren nicht vollständig verschwanden.
Dierk Hoffmann