Markus Stock (ed.): Alexander the Great in the Middle Ages. Transcultural Perspectives, Toronto: University of Toronto Press 2016, X + 281 S., 16 s/w-Abb., ISBN 978-1-4426-4466-3, USD 70,00
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Alexander der Große hat einen festen Ort in der "europäischen" Tradition bis in die heutigen Schulbücher hinein - er steht für eine der Wiegen "europäischer" Kultur, wurde im Laufe der Jahrhunderte fest in die (ebenfalls vielfach als christlich-europäisch gelesene) biblische Geschichte eingeschrieben und hat mit alledem einen festen Platz in der Geschichte von "wir und die anderen". Zugleich lässt sich an ihm jedoch die Begrenztheit dieser europäischen Sicht auf die eigenen, angenommenen Wurzeln greifen, denn das Alexander-Erbe ist im Laufe der Geschichte von zahlreichen anderen kulturellen und religiösen Gruppen angetreten worden. Erinnerungen an Alexander (und oft auch an die griechisch-hellenistische Kultur, die von seinen Eroberungen ihren Ausgang nahm) sind über Jahrhunderte überall zwischen der europäischen Atlantikküste und dem Pazifik lebendig gewesen. Ein Band über Alexander den Großen "im Mittelalter", aber in transkulturellen Perspektiven ist an diesem weiten Horizont zu messen, und letztendlich hält der Band auch, was er verspricht. Die Einleitung des Herausgebers Markus Stock (The Medieval Alexander: Transcultural Ambivalences, 3-12) denkt vom europäischen Alexander aus: Betont wird, dass das Alexander-Thema "not only the European literatures" betreffe und sich "as far as Persia" ausgebreitet habe - was angesichts des Lebensraums der historischen Figur ja eigentlich viel näher liegt als etwa Schweden (woher eine der im Band angesprochenen Handschriften stammt).
In den Beiträgen wechseln dann die Perspektiven, nicht allerdings zwingend die Motive und Funktionen mit dem kulturellen Umfeld, in dem sich der jeweilige Beitrag bewegt. Da es sich nicht um ein Handbuch, sondern um eine Sammlung von Einzeluntersuchungen handelt, die teilweise den Alexanderstoff an sich in einem bestimmten kulturellen Umfeld aufgreifen, zum Teil aber auch einzelne (Teil)Traditionen sprechen lassen, entsteht ein unvollständiges, aber höchst vielfältiges Bild, das Lust auf mehr macht. Viele Rezeptionsregionen lassen sich kaum auf ein bestimmtes kulturelles Umfeld reduzieren; die unterschiedlichsten Übersetzungswege, die verschiedensten Einordnungen in Wissensgebiete und dementsprechend Übersetzungszwecke sind zu verzeichnen. Alexanders Rollen können entsprechend stark wechseln innerhalb der einzelnen Traditionen, die gleichzeitig an unzähligen Stellen miteinander zusammenhängen, sich untereinander austauschen - auffallend sind die wiederkehrenden moralisierend-didaktischen Zwecke, zu denen der Alexanderstoff eingesetzt wird, ob Alexander nun ein idealer oder ein versagender Herrscher ist.
Das wird sofort deutlich: Thomas Hahn (East and West, Cosmopolitan and Imperial in the Roman Alexander, 13-29) blickt auf den hellenistischen Roman und das, was er "cosmopolitanism" bei den Römern nennt. Alexander erscheint als Grieche, Perser, Ägypter etc., tritt aber auch in Konkurrenz zum eigenen Weltherrscher Augustus und gibt insgesamt ein ambivalentes Bild ab. Emily Reiner (Meaning of Nationality in the Medieval Alexander Tradition, 30-50) hält persönliche Ambiguität bei Alexander auch für das europäische Mittelalter fest. Das ist vor allem verbunden damit, dass Alexander sehr unterschiedliche "Nationalitäten" annehmen (Grieche, Makedone, Ägypter, Trojaner) und damit einhergehend verschiedene Rollen spielen kann im Rahmen der translatio imperii, im Verein mit Aristoteles, als ägyptischer schwarzer Magier, als guter Kreuzfahrer. Christine Chism (Facing the Land of Darkness: Alexander, Islam, and the Quest for the Secrets of God, 51-75) arbeitet entsprechend für den Qissat Dhulqarnayn (den "Zweihörnigen") heraus, dass er entweder von Gier nach Wissen gezeichnet ist oder aber nach göttlichem Wissen strebt und dann Prophet vor Mohammed im Koran (Sure 18) sein kann. Auch für die jüdische Überlieferung war die Suche nach Wissen und damit die Reisen durch ganz Asien reizvoll, mehr noch aber wurde Alexander mit der Zeit zum eschatologischen König vor dem Messias - und die von ihm eingeschlossenen Völker, die in der Tradition der anderen oft als endzeitlich-zerstörerische Juden stehen, zu einem jüdischen Reich (Ruth Nisse, Diaspora as Empire in the Hebrew Deeds of Alexander (Ma'aseh Alexandros), 76-87). Kein anderer mittelalterlicher Text als der Alexanderroman wurde zudem so oft aus so vielen Sprachen ins Hebräische übersetzt - insgesamt fünf jüdische Versionen sind übersetzt aus dem Arabischen, Griechischen, Lateinischen. Und die Übersetzung aus dem Arabischen konnte der Vermittlung von "aristotelischem", hier esoterischem Wissen an die Juden dienen, so Shamma Boyarin (Hebrew Alexander Romance and Astrological Questions: Alexander, Aristotle, and the Medieval Jewish Audience, 88-103).
Viel weiter im Osten war die Alexanderüberlieferung ebenso populär wie im Westen. Zahllose Übersetzungen, Nacherzählungen, Adaptionen gelangten aus dem Syrischen nach Äthiopien, zu den Mongolen, Persien, Indien und schließlich, ins Malayische übersetzt, nach Südostasien - als Schlüsseltext der frühen islamischen Geschichte dort (wo sich der Islam 1400-1650 etablierte) mit dem muslimischen Eroberer "Iskandar Zulkarnain". Und der islamische Alexander wurde dann ein Nukleus südostasiatischer Identität gegen europäische Eroberer, 105: "The existence of an Islamic Alexander means that Western Alexander always already had a rival, and Southeast Asian response to the aggressive tactics of the Portuguese in the Indies could be framed in terms of the Islamic history given in romances and other texts brought from the Middle East or India" (Su Fang Ng, The Alexander Romance in Southeast Asia: Wonder, Islam, and Knowledge of the World, 104-122). Für den Raum Persien, wo viele der Alexandermotive ursprünglich spielen, greift Julia Rubanovich als Beispiel die zahlreichen Wandlungen einer altbekannten literarischen Episode in unterschiedlichen (moralischen) Funktionen in wechselnden Genres auf (Re-writing the Episode of Alexander and Candace in Medieval Persian Literature: Patterns, Sources, and Motif Transformation, 123-152). Faustina Doufikar-Aerts wiederum konzentriert sich für den rar illustrierten arabischen Alexanderroman auf eine besondere Berliner Handschrift (Coptic Miniature Painting in the Arabic Alexander Romance, 153-176).
Und schließlich sind wir zurück im mittelalterlichen Latein-Europa, bei Alexander als "star in his own Iliad", als Held eines "klassizistischen" lateinischen Epos (Sylvia A. Parsons, Poet, Protagonist, and the Epic Alexander in Walter of Châtillon's Alexandreis, 177-199) - doch kommt er damit nah an das moralisierend-warnende Beispiel, das Klaus Grubmüller als ein wichtiges Motiv in seinem Überblick über die deutsche mittelalterliche Alexanderliteratur festhält (Instrumentum Dei, Exemplum vanitatis, Speculum principis. Interpretations of Alexander in Medieval German Literature: A Survey, 200-216). Dabei betont er - und das darf als Quintessenz für das ganze Buch festgehalten werden - wie besonders deutlich die Polyvalenz von Gegenständen und Motiven am Alexander-Stoff wird. Ein Tour d'horizont immerhin des weiten lateineuropäischen Raumes des 13. Jahrhunderts erlaubt Maud Perez-Simon die Untersuchung einer einzigen altfranzösischen Handschrift (Science and Learning in the Middle Ages: Le Romance d'Alexandre en prose - A Study of Ms Stockholm, Royal Library Vu 20, 217-243). Sie betont nicht zuletzt die Relevanz des ikonographischen Programms, das für den humanistischen Übergang in der europäischen Überlieferung dann zum Abschluss Thomas Noll ins Zentrum rückt (The Visual Image of Alexander the Great: Transformations from the Middle Ages to the Early Modern Period, 244-263): Für die Frühe Neuzeit konstatiert er ein weiteres Themenspektrum, manche interessante Verschiebung und ein insgesamt positiveres Alexander-Bild. Der lehrreiche Band ist zum Teil spannend, leider durchwegs schwarz-weiß illustriert.
Felicitas Schmieder