Victor Taki: Tsar and Sultan: Russian Encounters with the Ottoman Empire, London / New York: I.B.Tauris 2016, 336 S., ISBN 978-1-78453-184-3, GBP 85,00
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Die Konstruktion des Anderen ist spätestens seit dem Erscheinen der Studie des amerikanischen Slavisten und Kulturhistorikers Larry Wolff von der diskursiven Erschaffung Osteuropas ein Thema in der Geschichtswissenschaft geworden.[1] In seinem neuesten Buch legt der an der privaten King's University in Edmonton (Kanada) lehrende russische Historiker Viktor Taki nun eine Kulturgeschichte der russisch-osmanischen Beziehungen vor, für die er als Quellen Tagebücher und Erinnerungen von Teilnehmern der türkischen Feldzüge, Gefangenenberichte, diplomatische Korrespondenz, statistische Publikationen und Reisebeschreibungen heranzieht. Der Autor hinterfragt dabei kritisch die Neigung der Kulturgeschichte, sich ausschließlich mit Texten und ihren Vernetzungen untereinander zu beschäftigen. Für Taki gibt es stets auch die handelnden Akteure. So verfolgt die Studie ihre allgemeineren Fragestellungen anhand deren individueller Erfahrungen, die in ihrer Vielfalt zu einer sozialen Erfahrung und schließlich zu einer politisch relevanten Kategorie werden. In einer feinen und kritischen Analyse seiner Quellen macht Taki den Prozess der Orientalisierung - der zentrale Begriff seiner Studie - des Osmanischen Reiches durch die russischen Eliten nachvollziehbar. Er stellt dabei einen Zusammenhang zwischen der Integration der russischen Außenpolitik in die europäische diplomatische Tradition, der Verwestlichung der russischen Eliten und der Konstruktion eines bestimmten Bildes des Osmanischen Reichs und des Orients insgesamt her. Der Istanbuler Stadtteil Pera, wo die europäischen Diplomaten wohnten, tritt in der Studie als ein Kommunikationsraum hervor, in dem Russen die Aneignung und Bewusstmachung von europäischer Identität, aber auch die kritische Auseinandersetzung mit ihr erlebten. Die Türkei wurde dabei zu einem Gegenbild zu Europa. Einer der wichtigsten Befunde Takis in diesem Zusammenhang ist die Beobachtung, dass der Gegensatz und die Konflikte zwischen den beiden Imperien eine Form der Wechselbeziehung und Kommunikation zwischen Russland und Europa waren. Die gegenseitige Verflechtung der russisch-osmanischen und russisch-europäischen kulturellen Kontakte war ein Spannungsfeld, in dem die Formierung und Artikulierung einer eigenen russischen imperialen Identität stattfand, die sich sowohl von der europäischen als auch der osmanischen unterschied. Zugleich weist Taki überzeugend darauf hin, dass der russisch-osmanische Gegensatz ein Faktor in der Entstehung des Begriffs von Europa als einer geopolitischen und kulturellen Entität war.
Gegliedert ist die Studie in eine Einführung, fünf Kapitel und ein Schlusswort. In der Einführung bietet Taki einen kritischen Überblick des Forschungsstandes, wobei er Desiderata vor allem in kulturhistorischen Fragestellungen ausmacht. Daraus leitet er das Ziel seiner Studie, nämlich die Rekonstruktion des kulturhistorischen Kontextes der russisch-osmanischen Beziehungen, ab. Auf Grundlage aktueller theoretischer Arbeiten aus diesem Bereich - wie der erwähnten Studie von Larry Wolff - setzt er sich kritisch mit dem politisch motivierten Orientalismusbegriff Said'scher Prägung auseinander und diskutiert westliche kulturelle und künstlerische Orientmodelle in ihrem Verhältnis zur Vielfalt des realen Orients. In diesem Zusammenhang spricht er von einer Orientalisierung des Orients, an der auch die Russen beteiligt waren, und betont deren herrschaftspolitische Dimension, indem er auf die symbolische Gewalt des Orientalismus gegenüber dem Anderen hinweist. Russland nahm in diesem Ost-West-Dualismus eine Zwischenstellung ein: Es bediente sich orientalistischer Rhetorik, um sich vom östlichen - oder genauer: südlichen - Nachbarn zu distanzieren und den eigenen Status als Vertreter der zivilisierten Welt zu bestätigen, sprach in seinen Orientrepräsentationen aber auch Zweifel an den Errungenschaften westlicher Zivilisation an.
Takis methodischer Ansatz im Hauptteil des Buches besteht in einer parallelen Lektüre westlicher und russischer Berichte und Beschreibungen des Osmanischen Reichs. Das erste Kapitel ist eine Kulturgeschichte der diplomatischen Beziehungen beider Reiche, beginnend mit den ersten Kontakten im 15. Jahrhundert. Anhand der Beschreibung des Reisewegs russischer Gesandter nach Konstantinopel gelingt ihm eine sehr aufschlussreiche Visualisierung der Komplexität der Machtbeziehungen und der Vielzahl der Akteure in den Peripherien. Bei der Darstellung und Analyse des diplomatischen Zeremoniells macht Taki deutlich, dass die russischen Herrscher einen den Sultanen gleichwertigen Status für sich beanspruchten, woraus im 18. Jahrhundert ein regelrechter Zeremonialkampf entbrannte, in dem Diplomaten auf beiden Seiten versuchten, ihre Verluste im Krieg durch zeremonielle Aufwertung auszugleichen, einander ihre eigenen Vorstellungen aufzudrängen und diesen einen normativen Charakter zu verleihen. Die Abwesenheit einer gemeinsamen diplomatischen Sprache sowie die periphere Lage der beiden Imperien im System der europäischen Mächte dürfte zur Schärfe des zeremonialen Konflikts beigetragen haben. Das Kapitel macht deutlich, dass der Verwestlichung Russlands eine imperiale Dimension inhärent war. Dieser Prozess wurde von den Effekten des Zusammenwirkens, der Begegnung, aber auch der Konkurrenz der Imperien begleitet, was jedoch Transferprozesse nicht ausschloss, wie am Beispiel der diplomatischen Tradition gezeigt wird.
Neben dem Sultans- oder Zarenhof und dem Diplomatenviertel war auch die Beschaffung von Sklaven in der Peripherie ein Raum der Begegnung und der Verflechtung beider Imperien. Das zweite Kapitel untersucht daher den russischen Diskurs über die Gefangenschaft im Osmanischen Reich. Die Analyse basiert auf wenigen Quellen, da die Anzahl der Rückkehrer aus der Versklavung äußerst beschränkt war. Anhand dieser Berichte lotet Taki die Handlungspielräume der Gefangenen aus und gewährt einen seltenen Einblick in ihre Lebenswelten, analysiert sowohl die persönlichen Erfahrungen der Gefangenschaft als auch die zu deren Verarbeitung eingesetzten narrativen Strategien. Dabei weist Taki auf die soziale Bedingtheit der gewählten Erzählstrategien hin, unterscheidet also zwischen Vertretern der niederen Schichten und dem Adel. In einer genauen Analyse legt Taki die Prozesse der Herausbildung der Narrative über das Osmanische Reich und die Rollen der daran beteiligten - individuellen wie auch staatlichen - Akteure offen. Die orientalisierenden Narrative lieferten wiederum legitimatorische Argumente für die imperiale Expansion, waren also mit dem imperialen Diskurs des 18. und 19. Jahrhunderts verflochten.
Einen ähnlichen Prozess, allerdings im Kontext der Berichte und Erinnerungen russischer Militärs, stellt das dritte Kapitel dar. Russische Beschreibungen der türkischen Feldzüge enthielten Reflexionen über die Unterschiede zwischen der europäischen und osmanischen Kriegskunst, die den Autoren als Grundlage für Kritik an türkischen Grausamkeiten im Krieg dienten. Die osmanische Kriegskunst widersprach dabei den Vorstellungen von zugelassenen Formen der Gewalt im Krieg und den Regeln einer rationalistischen Kriegsführung, die die Russen in der Frühen Neuzeit unter starkem Einfluss westeuropäischer Autoren ausgebildet hatten.
Das vierte Kapitel erzählt die Geschichte der Idee vom "Kranken Mann am Bosporus". Als Quellen dienen hier Publikationen der russischen Presse, Reisebeschreibungen und Statistiken des Osmanischen Reiches bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts. Es wird deutlich, dass die Vorstellungen von den Ursachen der angeblichen Rückständigkeit des Osmanischen Reiches mit dem Wandel des Verhältnisses des russischen gebildeten Publikums zu Europa einhergingen. Die Aneignung westeuropäischer Vorstellungen im russischen Orientdiskurs schuf dabei ein Spannungsfeld zwischen dem Diskurs von Russlands zivilisatorischer Mission und seiner zivilisatorischen Marginalität aus europäischer Perspektive, konnte also die Grenzen der Europäisierung Russlands selbst aufzeigen und sich so als Falle erweisen. Ein Ergebnis dieses Kapitels ist die Feststellung, dass der Begriff des Orientalismus als eine Verbindung westlichen Wissens über den Orient mit der Durchsetzung und Ausübung kolonialer Herrschaft über diesen hier nicht anwendbar sei, da er im russischen Kontext vielmehr einer Professionalisierung der russischen Diplomatie im Osmanischen Reich gedient habe.
Schließlich befasst sich das fünfte Kapitel mit der russischen Wahrnehmung orthodoxer Christen im Osmanischen Reich. Diese veränderte sich mit dem Wandel der Identität der russischen Eliten selbst. Während im 18. Jahrhundert die Griechen im Zentrum der Aufmerksamkeit standen, richtete sich mit der Herausbildung des modernen russischen Nationalismus der Blick auf die südlichen Slaven. Der Autor unterzieht hier Phänomene der russischen Politik- und Geistesgeschichte wie den Panslavismus einer kritischen Analyse. Zudem wird deutlich gemacht, wie russische Intellektuelle und Politiker die russische Aneignung der Errungenschaften westlicher Kultur mit einer angeblichen osmanischen Ignoranz diesen gegenüber kontrastierten. Selbst die Reformen der Tanzimat-Ära verstanden sie als Zeugnisse hoffnungsloser Rückständigkeit und des Niedergangs. Gerade durch eine solche eurozentrische Selbstreflexion, den Bezug der Vorstellung vom Osmanischen Reich auf Europa, betrieben sie ihre eigene Peripherisierung.
Zu den Themenfeldern, auf die sich Viktor Taki in seiner Studie wagt, gehört auch ein bisher nicht erforschtes Terrain der (Kultur-)Geschichte der russisch-türkischen Beziehungen - die Geschichte des militärischen Orientalismus. Die den Krieg thematisierenden Repräsentationen des Osmanischen Reichs in Russland legitimierten das Vorgehen des Zarenreiches in der "europäischen Türkei" und dem nördlichen Schwarzmeerraum, motivierten aber auch zahlreiche Russen zur Teilnahme am militärischen Widerstand der orthodoxen Völker des Osmanischen Reichs gegen die Herrschaft des Sultans. Hier zieht Taki schwierige Quellen heran: militärisch-theoretische Untersuchungen sowie verschiedene, darunter auch entlegene, Ego-Dokumente, häufig von fragwürdiger literarischer Qualität. Es bedarf eines großen historischen Geschicks, diese Quellen miteinander zu verknüpfen und so ein narrativ schlüssiges Bild zu entwerfen, das der Komplexität des Themas gerecht wird. Eine der größten Leistungen der Studie besteht darin, dass Taki für seine Untersuchung Quellen heranzieht, die bislang durch das Themenraster beider russischen Orientalismen - des akademischen wie des literarischen -, aber auch der modernen postkolonialen Studien gefallen sind. So rückt Taki die Kulturgeschichte des Krieges in den Kontext der westlich-östlichen und russisch-östlichen Beziehungen. Er zeigt somit eine Forschungsperspektive auf, die über die Analysen der Herrschaftsstrukturen westlicher Kolonialregime im Orient hinausgeht. Das ist wichtig, denn die Kriege trieben den Prozess der Orientalisierung des Orients voran, dienten der Etablierung einer Wissenskultur, die den Osten in Gedankenfiguren von Niedergang und Rückstand beschreibt und somit als ein Objekt der Herrschaft des "fortschrittlichen" Westens versteht. In diesem Sinne steht zu wünschen, dass Takis Buch auch als Einladung verstanden wird, die Geschichte des militärischen Orientalismus tiefergehend zu erforschen.
Anmerkung:
[1] Larry Wolff: Inventing Eastern Europe. The Map of Civilization on the Mind of the Enlightenment, Stanford 1994.
Alexander Bauer