Frank Bajohr / Sibylle Steinbacher (Hgg.): »... Zeugnis ablegen bis zum letzten«. Tagebücher und persönliche Zeugnisse aus der Zeit des Nationalsozialismus und des Holocaust (= Dachauer Symposien zur Zeitgeschichte; Bd. 15), Göttingen: Wallstein 2015, 240 S., ISBN 978-3-8353-1742-0, EUR 20,00
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Die im Rahmen der Dachauer Symposien zur Zeitgeschichte 2014 entstandenen Beiträge beleuchten ein breites Spektrum persönlicher Zeugnisse aus der NS-Zeit, die von Verfolgungsopfern, von gesellschaftlichen Akteuren mit unterschiedlicher Verstrickung bis hin zu einem NS-Täter stammen. Einführend betont Frank Bajohr, schon Zeitgenossen des NS-Regimes hätten diese Jahre als "Zeitalter des Tagebuchs" (7) bezeichnet. Mangels freier öffentlicher Kommunikation war das Tagebuch einerseits geeignetes Medium, um sich die massiven Umbrüche von 1933 zu erklären, andererseits wurden "Volksgenossen" vom Regime aufgefordert, Zeugnis einer vermeintlich großen Zeit abzulegen. In Bezug auf Publikationskonjunkturen dieser Quellengattung fällt auf, dass sie erst Ende der 1970er Jahre an Bedeutung gewann. In den 1990er Jahren entwickelte sich, einhergehend mit dem starken Aufschwung der Holocaustforschung, das öffentliche Interesse an Zeugnissen von NS-Opfern.
Zu den wenigen Entscheidungsträgern des "Dritten Reiches", die ein Tagebuch führten, gehörte Alfred Rosenberg mit seinen Aufzeichnungen 1934-1944, die Jürgen Matthäus im Kontext des Holocaust untersucht. [1] Frappierend ist, dass sich darin nahezu keine Notizen zum Schicksal der Juden und anderer "Fremdvölkischen" finden, was im Kontrast etwa zu Rosenbergs Rede vom 18. November 1941 steht, in der er die "biologische Ausmerzung des gesamten Judentums in Europa" dizidiert als Ziel benannte. (31) Seine Aufzeichnungen bestätigen aber die Annahme, dass das "Ostland" die Region war, in der nach Ansicht der NS-Führung in der Übergangsphase von der Judenverfolgung zur Judenvernichtung die "Endlösung" hätte stattfinden sollen. Rosenbergs Machtbereich wäre die Mordstätte der meisten europäischen Juden geworden. Dies unterstreicht seine Schlüsselrolle in der NS-Judenpolitik in der zweiten Hälfte des Jahres 1941. Die Signifikanz dieser Quelle erschließt sich aus der Kontextualisierung, wie klar demonstriert wird.
Bezüglich der Frage, ob die Zeitgenossen zu Beginn der NS-Diktatur tatsächlich "die historische Größe der Zeit" gefühlt haben, kommt Janosch Steuwer zu dem Ergebnis, dass das Jahr 1933 überwiegend als gravierender politischer Einschnitt empfunden worden sei - zwischen der Erfüllung lang gehegter Sehnsüchte und der Zerstörung eigener politischer Hoffnungen, was der These von der Gleichgültigkeit klar widerspreche. [2]
Wie sich im Laufe von Jahrzehnten die eigene lebensgeschichtliche Konstruktion oft wandelt, zeigt Beate Meyer exemplarisch an den Tagebüchern einer Hamburger Lehrerin. In den frühen 1930er Jahren NS-Anhängerin, geriet sie später wegen ihrer Ehe mit einem Juden ins gesellschaftliche Abseits, bis sie sich 1943 mit der "Volksgemeinschaft" der Ausgebombten wieder eins fühlte. Aus der Rückschau der 1950er Jahre konstruierte sie eine oppositionelle Haltung und verdrängte, dass sie zu den Mitläufern gehörte.
Drei Beiträge beziehen sich ausschließlich auf Zeugnisse jüdischer Opfer des Holocaust. Susanne Heim betont, was in der Holocaustforschung inzwischen weitgehend Konsens ist, dass ohne die subjektiven Zeugnisse der Opfer die Geschichte der nationalsozialistischen Judenverfolgung nicht geschrieben werden könne. Tagebücher und Briefe verfolgter Juden enthalten aufschlussreiche Details über NS-Verbrechen, das Verhalten der nichtjüdischen Umwelt und das extrem brutale Chaos der Durchführung des Holocaust und sollten mit aller gebotenen Quellenkritik und notwendigen Kontextualisierung auch als Korrektiv der Tätergeschichtsschreibung benutzt werden.
Andrea Löw bezieht sich auf 16 Tagebücher aus dem Ghetto Litzmannstadt, für deren Verfasser das Schreiben Überlebenshilfe, Selbstbehauptung und Sinnstiftung bedeutete. Das Erlebte für spätere Generationen zu dokumentieren, war wohl die wichtigste Motivation. Die Tagebücher machen erfahrbar, dass die Opfer handelnde Individuen waren, dass sie trotz der Allgegenwärtigkeit des Todes und des quälenden Hungers versuchten, Alltag und "Normalität" zu schaffen.
Der Frage, was jüdische Überlebende in der unmittelbaren Nachkriegszeit über die Dimension des Holocaust "wussten", geht Jan Lambertz anhand von Suchanfragen an die Jüdische Gemeinde in Leipzig nach, um Einblick in ihre Nachkriegsperspektive zu bekommen. Die radikale und massenhafte Vernichtung von Gemeinden und Familien, so Lambertz' Feststellung, sei bis zu einem gewissen Grad abstrakt geblieben und mit dem persönlichen Schicksal wenig in Verbindung gebracht worden.
Annette Eberle untersucht die raren Selbstzeugnisse von als "erbkrank" oder "asozial" stigmatisierten Menschen, die bisher oft nur aus der Täterperspektive bekannt und lange nicht als NS-Opfer wahrgenommen wurden. Abgeschoben in die Psychiatrie, zwangssterilisiert oder in ein KZ eingewiesen, unternahmen auch sie den verzweifelten Versuch, durch schriftliche Äußerungen die soziale Isolation zu überwinden, um zu überleben.
Um das komplizierte Wechselspiel zwischen akademischer Forschung und öffentlicher Erinnerungskultur geht es im Beitrag von Christina Morina. Sie setzt sich mit der Publikation des niederländischen Historikers Bart van der Boom (2012) auseinander, der die These vertritt, der "Mythos vom schuldigen Bystander" sei nicht haltbar, "normale" Niederländer hätten vom Holocaust (in der engen Definition als Gastod in den Vernichtungslagern) nichts gewusst. Morina kritisiert, dass der Autor auf die Frage nach dem Wissen über den Judenmord aus komplexen Selbstzeugnissen Antworten ableite, ohne etwa zwischen jüdischen und nichtjüdischen Tagebüchern zu unterscheiden. Seine umstrittenen Thesen und Methoden sollten, so Morina, im Kontext der internationale Bystander- und Tagebuchforschung diskutiert werden.
Die Zeugnisse zweier KZ-Insassen untersucht Barbara Distel. Hans Litten, 1933 als Anwalt am Berliner Kammergericht verhaftet, heute Symbol des Kämpfers gegen die verbrecherische NS-Justiz, wurde 1938 im KZ Dachau ermordet. Briefe Littens und seiner Mutter zeugen davon, wie seine Studien zur mittelalterlichen Literatur im KZ als Form der Selbstbehauptung dazu beitrugen, die quälenden Jahre zu überstehen. Edgar Kupfer-Koberwitz dagegen verfasste ab November 1942 bis zum Ende im KZ Dachau (als nichtjüdischer Häftling) Aufzeichnungen mit dem Ziel, die Nachwelt über die Verbrechen aufzuklären. [3]
Ausgehend vom Tagebuch Friedrich Kellners, [4] eines scharfen Kritikers des NS-Regimes, analysiert Dietmar Süss Aufzeichnungen aus dem "Luftkrieg". Die Überlegungen Kellners, der die NS-Propaganda-Sprache entlarvt, werden kontrastiert mit Beschreibungen anderer, in denen sich die Überzeugungskraft nationalsozialistischer Deutungsmuster zeigt. Süss hält die Frage nach der Wirkungsmacht der Bombardierung für zentral, gibt aber zu bedenken, dass "Kriegsmoral" ein fragiles Konstrukt ist.
Die vorliegenden Aufsätze über die Quellengattung der Ego-Dokumente aus der NS-Zeit zeigen auf vielfältige Weise, wie Tagebücher und Briefe unter der wahrnehmungsgeschichtlichen Perspektive Dinge, die für gesichertes Wissen gehalten wurden, in Frage stellen bzw. neu akzentuieren können. Ebenso deutlich wird, dass sich die Signifikanz dieser Quellen erst durch ihre quellenkritische Einordnung und Kontextualisierung mit anderen Dokumenten erweist. Die Beiträge dieses Sammelbandes regen zu weiterer Forschung über den Umgang mit Tagebüchern und Briefen an.
Anmerkungen:
[1] Jürgen Matthäus / Frank Bajohr (Hgg.): Alfred Rosenberg. Die Tagebücher von 1934 bis 1944, Frankfurt a. M. 2015.
[2] Dazu inzwischen: Janosch Steuwer: »Ein Drittes Reich, wie ich es auffasse«. Politik, Gesellschaft und privates Leben in Tagebüchern 1933-1939, Göttingen 2017.
[3] Edgar Kupfer-Koberwitz: Dachauer Tagebücher. Die Aufzeichnungen des Häftlings 24814, München 1997.
[4] Friedrich Kellner: "Vernebelt, verdunkelt sind alle Hirne". Tagebücher 1939-1945, hgg. von Sascha Feuchert / Robert Kellner / Erwin Leibfried / Jörg Riecke / Markus Roth, Göttingen 2011.
Beate Kosmala