Christine Gundermann: Die versöhnten Bürger. Der Zweite Weltkrieg in deutsch-niederländischen Begegnungen 1945-2000 (= Zivilgesellschaftliche Veränderungsprozesse vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart; Bd. 13), Münster: Waxmann 2014, 470 S., zahlr. Abb., ISBN 978-3-8309-3129-4, EUR 44,99
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Die Beziehungen zwischen den Niederlanden und der Bundesrepublik Deutschland sind seit den 1990er Jahren Gegenstand intensiver geschichtswissenschaftlicher Auseinandersetzungen. Nach der Zäsur des Zweiten Weltkriegs, so das etablierte Narrativ, dauerte es trotz enger wirtschaftlicher Kooperation ein Vierteljahrhundert bis zum Beginn der außenpolitischen Normalisierung. Auch nach dem Ende des Kalten Krieges, das zeigen jüngere Studien, blieb das Verhältnis der verwandten, jedoch ungleichen Nachbarn zunächst angespannt. Indem sie die deutsch-niederländische Versöhnung auf der Ebene der Zivilgesellschaft in den Blick nimmt, hinterfragt und ergänzt Christine Gundermann dieses Bild.
Grundlage ihrer 2013 als Dissertation an der Freien Universität Berlin angenommenen Arbeit sind sieben Mikrostudien zu transnationalen "zivilgesellschaftlichen Begegnungserinnerungen" von Bürgerinnen und Bürgern der Niederlande und der Bundesrepublik Deutschland. Untersucht werden diese auf kommunaler Ebene, unter christlichen Vorzeichen und an konkreten Erinnerungsorten. Die thematische Gliederung macht Wiederholungen unumgänglich, in dem aus profunder Kenntnis der Forschungsliteratur gespeisten, ausgesprochen dichten Text sind diese jedoch der Orientierung dienlich.
Erkenntnisleitend ist für Gundermann erstens die Frage nach den Erinnerungen an den Zweiten Weltkrieg. Dieser wird eingangs als bestimmende Konstante deutsch-niederländischer Beziehungen identifiziert und davon ausgehend zweitens untersucht, inwiefern die nationalsozialistischen Verbrechen als "historisches Bezugsereignis" (11) bei den Begegnungen fungierten. [1] Im Hinblick auf die zivilgesellschaftliche Erinnerungskultur werden drittens verschiedene Phasen identifiziert und zu den nationalstaatlichen Geschichtskulturen in Beziehung gesetzt. Viertens geht es der Autorin um die Überprüfung der These, dass die Zivilgesellschaft über Erinnerungstransformationen eigene zwischenstaatliche Handlungsspielräume zu schaffen vermochte.
Methodisch bedient Gundermann sich eines verflechtungsgeschichtlichen Ansatzes, der von den Akteurinnen und Akteuren ausgeht, deren grenzüberschreitendes Engagement Begegnungen und gemeinsames Erinnern von Angehörigen verschiedener Nationen ermöglichte. Zivilgesellschaft versteht sie dabei als "selbstregulierten sozialen Raum bürgerschaftlichen Engagements" (16). [2] Den Gegenstand ihres Interesses fasst die Autorin mit dem prägnanten Begriff "Begegnungserinnerungen", der nicht ohne die vielfältigen Theorien der memory studies zu denken ist und insbesondere die Kategorie "Geschlecht" berücksichtigt.
Das Buch gliedert sich in vier Teile. Am Beginn des ersten Teils steht ein Überblick über die Erinnerungsdiskurse und Trauerrituale in den Niederlanden und der Bundesrepublik Deutschland. Lässt man eine nur für die Niederlande angesetzte Findungsphase zwischen 1945 und 1947 unberücksichtigt, bestätigt sich im Verlauf der Studie die hier vorgenommene Einteilung in drei Phasen mit Zäsuren um 1960 und 1980 für beide Länder auch unterhalb der nationalen Ebene. Wie die Autorin mehrfach deutlich macht, seien gemeinsame staatspolitische Gedenkzeremonien nicht möglich gewesen, jedenfalls nicht bis zur Jahrtausendwende, die den Endpunkt der Untersuchung bildet. Letzteres erscheint gewagt, ist für Archivquellen doch eine Karenzzeit von zwei bis drei Jahrzehnten anzusetzen. Angesichts der Berücksichtigung diverser anderweitig verfügbarer historischer Zeugnisse, der Analyse relevanter Denkmale sowie insbesondere der akribischen Auswertung einschlägiger Zeitungen fällt dies jedoch weniger ins Gewicht.
Transnational angelegte Studien zur Versöhnung nach dem Zweiten Weltkrieg können auf die Untersuchung kommunaler Verbindungen kaum verzichten, folgerichtig stehen diese im Zentrum des zweiten Teils. Köln und Rotterdam, verbunden durch eine Ringpartnerschaft, fanden über die Erfahrung des Luftkriegs zueinander, in der EUREGIO europäisierte sich die Kriegserinnerung wie zu erwarten deutlich früher als andernorts. Wie die Autorin nachweisen kann, war gemeinsames Gedenken auf kommunaler und regionaler Ebene über das "Minimalnarrativ der 'befreiten Bürger'" (176) schon ab den 1980er Jahren möglich.
Am Beginn des dritten, christlichen Begegnungen gewidmeten Teiles wird exkursartig die Frage nach dem unvermeidlichen Kontakt mit dem jeweils Anderen behandelt. Im Fall der Deutschen Evangelischen Gemeinde in Rotterdam spricht Gundermann von einer "Duldung" (206), die Nederlandse Oecumenische Gemeente te Berlijn beschreibt sie hingegen als geschichtspolitisch aktive Mittlerin. Anhand des bereits in Ansätzen erforschten Wirkens der Aktion Sühnezeichen Friedensdienste belegt die Autorin, dass im deutsch-niederländischen Kontext Versöhnung als christliches Gebot interpretiert wurde. Die Bedeutung von daraus abgeleiteten Wandlungsgeschichten zeigt sich hier ebenso wie in den Kontakten zwischen den Gemeinden Putten und Ladelund, die durch erlebtes und beobachtetes Leid infolge der Verschleppung niederländischer Männer in deutsche Konzentrationslager verbunden waren.
Mit Ysselsteyn, dem einzigen deutschen Soldatenfriedhof in den Niederlanden, wird im vierten Teil zunächst ein Ort der Täter berücksichtigt, die als Opfer des Krieges anerkannt und im Zeichen des Friedens gemeinsam erinnert wurden. Abschließend findet mit Anne Frank eine Ikone des Leidens und der Vergebung Berücksichtigung, deren Entwicklung zum "'kosmopolitischen' Erinnerungsort" (374) breit erforscht ist. [3] Anhand dieses Beispiels gelingt es der Autorin, die Bedeutung bürgerlicher Werte für die deutsch-niederländischen Begegnungserinnerungen herauszuarbeiten. Darüber hinaus kann sie hier besonders deutlich zeigen, wie über gezielte Zuschreibungen stereotype Bilder der moralisch überlegenen Niederlande, aktiver Helfender und passiver, femininer oder infantilisierter Opfer konstruiert wurden.
In der Zusammenschau betont Gundermann die Bedeutung von Mittlern, denen sie gerade für die erste Phase bis Ende der 1950er Jahre eine zentrale Rolle bei der Herstellung von Kontakten und der Formung kompatibler Kriegsnarrative zuschreibt. Letztere hätten sich bis Ende der 1970er Jahre verfestigt, seien jedoch auch infrage gestellt und ausgetauscht worden. Die "Begegnungserinnerungen" beschreibt sie als lokal geprägt, partikulär und fragmentarisch. Erinnert worden seien vor allem Ereignisse, die eine Identifikation mit Opfern erlaubten, die dem eigenen Kollektiv zugerechnet wurden. Zusammen mit einer deutlich erkennbaren Pfadabhängigkeit einmal etablierter Narrative erklärt dies teilweise, warum die nationalsozialistischen Verbrechen und insbesondere die Shoah kaum thematisiert wurden. Durch Entkausalisierung und Entsubjektivierung, so die Autorin, sei Verantwortung externalisiert oder auf die staatliche Ebene projiziert worden, was unterhalb dieser Ebene jedoch bereits ab den 1980er Jahren gemeinsame Gedenkveranstaltungen ermöglichte, die zunehmend im Zeichen Europas standen.
Insgesamt gelingt es Gundermann, die langen Linien und die bemerkenswerte Stabilität deutsch-niederländischer "Begegnungserinnerungen" auf zivilgesellschaftlicher Ebene herauszuarbeiten. Die Diversität und die Eigengesetzlichkeit, die dabei zutage treten, lassen hoffen, dass ähnlich angelegte Studien zu anderen Ländern unser Bild von der transnationalen Versöhnung nach dem Zweiten Weltkrieg vervollständigen werden.
Anmerkungen:
[1] Den Begriff führt Gundermann zurück auf M. Rainer Lepsius: Demokratie in Deutschland. Soziologisch-historische Konstellationsanalysen, Göttingen 1993, 229. Lepsius schreibt jedoch nur über das "Bezugsereignis".
[2] Grundlegend für diese Definition ist Jürgen Kocka: Zivilgesellschaft. Zum Konzept und seiner sozialgeschichtlichen Verwendung, in: Neues über Zivilgesellschaft aus historisch-sozialwissenschaftlichem Blickwinkel, hg. von Jürgen Kocka, Berlin 2001, 4-21.
[3] Insbesondere von Daniel Levy / Natan Sznaider: Erinnerung im globalen Zeitalter: Der Holocaust, Frankfurt am Main 2001.
Maya I.S. Gradenwitz