Marlene Kessler / Kristin Lee / Daniel Menning (eds.): The European Canton Trade 1723. Competition and Cooperation, Berlin / Boston: De Gruyter Oldenbourg 2016, 441 S., 17 s/w-Abb., zahlr. Tabl., ISBN 978-3-11-042623-6, EUR 49,95
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Der Kantonhandel ist unzweifelhaft ein wichtiges Phänomen des globalen frühneuzeitlichen Handels, zu dem das besprochene Werk entsprechend dem Titel einen akteurbezogenen Beitrag verspricht. Auf den ersten Blick ist dabei die wichtigste Eigenschaft des Bandes nicht ersichtlich: Es handelt sich um keine Monographie, auch nicht um einen Sammelband, sondern um eine kritisch-kommentierte Quellenedition.
Formal geht der Quellenedition eine sehr knappe, gerade einmal 13-seitige Einleitung voraus, in der zunächst eine historische Kontextualisierung des Kantonhandels im Jahr 1723 versucht wird, weitere vier Seiten sind der archivistischen und historischen Einbettung der edierten Quellen selbst gewidmet. Zu guter Letzt findet sich eine Beschreibung der Editionskriterien, die auf einen einzigen Absatz reduziert sind. Sie sind im Zusammenhang der Publikationsform jedoch durchwegs sinnvoll und state-of-the-art, auch wenn es bei einer nicht-digitalen Edition nie möglich sein wird, die Interessen aller Zielgruppen gleichzeitig zu bedienen.
Den Hauptteil des Bandes nimmt die Edition von vier wesentlichen und umfangreichen Quellen zum Kantonhandel im Jahr 1723 ein. Die ersten drei Dokumente sind auf Englisch und beleuchten unterschiedliche Zugänge zur Kantonfahrt der East India Company (EIC) in besagtem Jahr. Am Anfang stehen die "Orders & Instructions" des Direktoriums, in denen organisatorische und rechtliche Rahmenbedingungen des Unternehmens ausgesteckt werden, über die Route, den Umgang mit Unwägbarkeiten und der Ladung, das Management des Wareneinkaufs und Ähnliches. Das Logbuch der an der Reise teilnehmenden Hartford nimmt im Vergleich zu diesem sehr kompakten Dokument deutlich mehr Raum ein, wobei ein Großteil des Dokuments (80 Seiten!) dem klassischen tabellarischen Logbuchschema (Zeit, Geschwindigkeit, Kurs, Wind, Anmerkungen) folgt. Das ist viel Papier, und der Rezensent gesteht, diesen Teil im Wesentlichen überblättert zu haben. Der unbestreitbare Wert dieser Quelle kommt im Printformat nicht zur Geltung, da diese Art von Daten hauptsächlich in statistischer Form verwertbar sind. Hier wäre es vielleicht sinnvoller gewesen, nur einen kleinen Teil abzudrucken, um die Struktur des Dokuments zu zeigen, und den tabellarischen Teil des Logbuchs in Form einer Excel-Datei als Bonusmaterial zur Verfügung zu stellen. Das ist insofern zu unterstreichen, da tatsächlich ein Teil des Logbuchs aufgrund der Länge nicht in den gedruckten Band aufgenommen wurde und nur als PDF auf der Seite von DeGruyter zur Verfügung steht. Durch die Kürzung des tabellarischen Teils hätte man zugleich die Textteile der Rückfahrt unproblematisch abdrucken können. Das dritte Dokument sind die Rechenschaftsberichte beziehungsweise Protokolle des leitenden operativen Gremiums, die wertvolle Einsichten über Ereignisse, geschlossene Verträge, Ein- und Verkäufe sowie Entscheidungen aller Art ermöglichen.
Zum Bonusmaterial ist kritisch anzumerken, dass das Internet für Verlage anscheinend immer noch Neuland ist, denn die im Buch angegebene Adresse ist nicht nur eine "messy URL", der Link ist darüber hinaus tot. Über die Verlagshomepage und Produktinformation ist das entsprechende PDF-File zugänglich, es müsste für einen renommierten Verlag aber zumutbar sein, für diese Art von Zusatzinhalten stabile "persistent URLs" bereit zu stellen.
Die letzte und umfangreichste Quelle unterscheidet sich von den anderen in vielfacher Hinsicht: Sie beleuchtet erstens nicht die Fahrt der EIC, sondern die der Konkurrenz aus Oostende, ist zweitens auf Französisch und ist aus quellenkritischer Perspektive deutlich komplexer. Es handelt sich dabei nämlich um einen Reisebericht in Briefform, der literarische Züge aufweist und Elemente anderer Reiseberichte rezipiert beziehungsweise integriert. Die Aufnahme dieses Berichts in die Quellensammlung aus Sicht des Rezensenten dennoch gerechtfertigt, da sich so fruchtbare Assoziationen und Vergleichsmöglichkeiten auftun - wenigstens für diejenigen LeserInnen, die in der Lage sind, beide altertümlichen Sprachen weitgehend zu erfassen und die diese Arbeit selbst leisten. Denn auch wenn tatsächlich, wie im Titel versprochen, unterschiedliche Perspektiven verschiedener Akteure in den Texten sichtbar werden, wäre es vielleicht möglich gewesen, die Leserschaft bei dieser Arbeit mehr zu unterstützen und wesentliche Elemente und Interpretationsansätze der einzelnen Quellen explizit in speziellen Einleitungen oder Schlussfolgerungen herauszuarbeiten, auch wenn es mit Sicherheit den Aufwand für die Publikation um einiges vergrößert hätte.
Im Anschluss an die Edition findet sich ein sehr nützliches Glossar nautischer Ausdrücke, eine adäquate Bibliographie und ein Index. Allerdings wurde hier dennoch eine Chance verpasst, die gute eigene Arbeit ohne besonderen Aufwand besser ins Licht zu rücken. Man hätte neben den nautischen Begriffen auch weitere Aspekte der kritischen Annotationen in Form von Glossaren und eventuell Karten in den Appendix stellen können. In den Fußnoten des Hauptteils finden sich nämlich neben eigentlichen Anmerkungen auch Erklärungen von speziellem Vokabular, Kurzbiographien von Personen, Beschreibungen von Handelswaren und Maßeinheiten sowie Erläuterungen zu geographischen Angaben sehr guter Qualität, die jedoch nur über den Umweg des Index zur Fußnote der Ersterwähnung des Begriffs gefunden werden können. So ist Arrak (Palmwein) zwar im ersten Dokument auf Seite 37 näher erläutert, auf Seite 197, bei der Erwähnung von "Eighteen Leagures Arrack" findet sich allerdings kein Hinweis darauf, genauso wenig wie darauf, dass die Einheit "Leagure" auf Seite 183 definiert wird. Kurz, es ist prinzipiell alles da, was an Auskommentierung und Glossierung da sein sollte (sogar in vorbildhafter Vollständigkeit), eine gebündelte Darstellungsform hätte das Nachschlagen erleichtert und die hier geleistete wertvolle Arbeit auch besser zur Geltung gebracht.
Abschließend betrachtet ergibt sich für den Rezensenten ein gemischtes Bild: Positiv hervorzuheben ist die Entstehungsgeschichte des Bandes, dessen grundlegende Transkriptionsarbeit wie auch kritische Kommentierung von Studierenden aus einer Lehrveranstaltung heraus geleistet wurde. Ein solches Projekt bis zur Publikation zu bringen ist wirklich außergewöhnlich und mehr als lobenswert. Ambivalent dagegen ist die ausschließliche Erwähnung der so einbezogenen Personen in einer Notiz in den Acknowledgments. Dem Rezensenten fehlt zwar Information darüber, wer welchen Anteil am tatsächlichen Zustandekommen des Buchs hatte, aus der Notiz geht aber hervor, dass die gesamte grundlegende Vorarbeit von den Studierenden getragen wurde. Positiv ist die Auswahl der Dokumente und deren qualitativ hochwertige Transkription, die Zugang zu wesentlichen Quellen über den Kantonhandel im Jahr 1723 bieten und die sich auch in ihrer Zusammensetzung wunderbar ergänzen; problematisch ist das Fehlen einer ausführlicheren quellenkritischen Auseinandersetzung damit. Positiv ist die hervorragende glossarische und lexikalische Auskommentierung, weniger effektiv deren Verstecken in Fußnoten. Positiv ist die Bereitstellung von Bonusmaterial, weniger gelungen die Auswahl dieses Materials und dessen Referenzierung.
Es bleibt am Ende eine qualitativ gute Edition sinnvoll ausgewählter, wichtiger Dokumente für einen wichtigen Moment der Geschichte des Kantonhandels, deren Nutzwert mit einigen anders ausgefallenen Entscheidungen hinsichtlich der Publikation mit verhältnismäßig geringem Aufwand noch erhöht werden hätte können.
Werner Stangl