Luise M. Errington: Otto Jahn und Adolf Michaelis - Briefwechsel 1848 bis 1869. Kommentierte Ausgabe (= Beiträge zur Geschichte der Archäologie und der Altertumswissenschaften; 1), Berlin: De Gruyter 2017, X + 864 S., 4 s/w-Abb., ISBN 978-3-11-054401-5, EUR 149,95
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3956 Gramm. Legt man noch einen Kugelschreiber und einen Notizblock dazu, dann sind es beachtliche vier Kilogramm. Dieses Gewicht bringt der von Luise M. Errington bearbeitete Briefwechsel zwischen zwei deutschen Gelehrten aus der Mitte des 19. Jahrhunderts auf die Waage. Das ist nicht nur zu viel für den Nachttisch, sondern fast auch für den Schreibtisch. Man muss also sportlich an die Lektüre herangehen und etwas Kondition mitbringen. Dann allerdings lohnt sich der Marathon selbst für wissenschaftshistorisch untrainierte Leser. Denn auf 863 eng bedruckten DIN A 4-Seiten wird ein breites allgemeinhistorisches Panorama ausgebreitet.
Die Bearbeiterin führt zunächst konzise in Entstehung, Umfang, Verlauf und Überlieferungsgang des Briefbestands (1-4) und in die persönlichen und politischen Hintergründe der Schreiber ein (5-19). Es handelt sich bei den nahezu 600 Dokumenten nicht nur um die zwischen 1848 und 1869 gewechselte Korrespondenz zwischen Onkel (Otto Jahn) und Neffe (Adolf Michaelis), sondern auch um für den anderen indirekt mitbestimmte Familienbriefe der beiden. Außer der Einleitung machen biografische Tafeln die Verortung von Ereignissen und Entwicklungen in den Biografien der beiden Geisteswissenschaftler bequem möglich. Nötig ist das stetige Hin- und Herblättern durch den häufigen Ortswechsel der beiden auf ihrem jeweiligen akademischen cursus honorum und auf den regelmäßigen Studienreisen. Otto Jahn (1813-1869) absolvierte nach einer soliden Schulbildung in seiner zu Dänemark gehörigen Vaterstadt Kiel und im preußischen Schulpforte philologische und musikalische Studien und hatte Professuren für klassische Literatur in Greifswald, Leipzig und Bonn inne. Sein ihm nacheifernder Neffe Michaelis (1835-1910) hatte es durch die Einführung und Fürsprache Jahns auf dem Weg in eine akademische Karriere leichter. Seine Studienzeit in Leipzig, München, Berlin und Kiel wirkt gelegentlich wie vom wohlwollenden Lehrer arrangiert. Aber weder die Universitätsjahre noch die mit unzähligen Stipendien und Reisebeihilfen überstandenen Jahre der Privatdozentenzeit bis zum Ruf auf ein Extraordinariat in Greifswald (Br. 395) wären ohne den Fleiß, die fachliche Breite und vor allem die stupenden altsprachlichen Fähigkeiten und Quellenkenntnisse möglich gewesen. Letztere durchziehen den Briefwechsel auf nahezu jeder Seite - vom Kokettieren des Pennälers Michaelis bis in die letzten Episteln des bereits todkranken Jahn.
Die frühe und anhaltend enge Bindung zwischen Onkel und Neffen entstand durch den Tod von Michaelis' Vater. Dieser, ein Enkel des berühmten Göttinger Orientalisten Johann David Michaelis, konnte sich in Anerkennung der Semmelweisschen Hygieneerkenntnisse in der Geburtshilfe eigene Berufsfehler als Gynäkologe nicht verzeihen und beging Selbstmord. Als väterlicher Freund trat nun der Onkel in das Leben des 12-jährigen ein, auch weil Michaelis' Mutter Julie die Lieblingsschwester von Otto Jahn war. Die ersten Briefe setzen 1848 zu einer Zeit ein, als Jahn fachlich bereits reüssiert hatte und vom peripheren Greifswald als Ordinarius nach Leipzig gewechselt war, das nach Berlin und München als dritte Endstations-Universität auf einer deutschen Professorenkarriere galt. In Jahns Fall entwickelten sich die Dinge etwas anders, denn bekanntlich entfachte der Kreis um den von ihm nach Leipzig geholten Jugendfreund Theodor Mommsen ein demokratisches Feuer, das die Staatsregierung in Dresden nach der Revolution gründlich auszutreten gedachte. Jahn und Mommsen wurden entlassen und fanden wenig später in Preußen akademisches Exil. Auch wenn Jahn bis zu seinem Tod immer wieder mit Bonn haderte, wo er seit 1854 lehrte, blieb er dem überschaubaren Städtchen am Rhein treu. Von dort dirigierte er den Werdegang des Neffen, der sich erst mit Lehrstuhlberufungen nach Greifswald (1862) und Tübingen (1864) "freischwimmen" konnte, wie es Luise M. Errington treffend bezeichnet (4).
Wer sich für die Fachgeschichte der Orientalistik, Archäologie, diverser Altphilologien und in Jahns Fall auch der (historischen) Musikwissenschaft und die Mechanismen des Aufstieges innerhalb dieser Disziplinen interessiert, findet hier überreiches Material. Die behandelten wissenschaftlichen Themen können durch ein mustergültiges Verzeichnis der in der Brieftexten genannten Literatur sowie der dort erwähnten Dissertationen, antiken Autoren, Text- und Inschriftenausgaben, Vorlesungen, antiken Skulpturen, Vasenbildern, "Personen und Sachen aus dem Musikleben" und allgemeiner Stichwörter (820-856) erschlossen werden. Der Blick in die Namens- und Ortsregister (795-819) verdeutlicht darüber hinaus die Bandbreite des zwei Jahrzehnte dauernden Gesprächs. Die Zeitgeschichte der 1850er und 1860er wird hier von klugen Beobachtern kommentiert, Privates und Politisches wird stets und ständig verwoben. Intime Einsichten in die körperlichen und seelischen Gesundheitszustände sorgen beim Leser für eine unmittelbare Erlebnisperspektive, sodass man sich auf der Suche nach einzelnen Personennamen immer wieder festliest und erst Seiten später losreißen kann. Wieviel Substanz aus dem Gefühlshaushalt die klassischen Auswahleditionen der Politikgeschichte dem Leser vorenthalten, wenn vor, im oder nach einem Dokument in eckigen Klammern lakonische Stichpunkte wie "Wetter" oder "gesundheitliche Klagen" stehen, wird bei der Lektüre dieser Korrespondenz mehr als deutlich.
Luise M. Errington hat ein eminentes Zeugnis des Briefzeitalters aufbereitet und in editorisch mustergültiger Form vorgelegt. Die Reihe "Beiträge zur Geschichte der Archäologie und der Altertumswissenschaften" des Deutschen Archäologischen Instituts ist mit einem würdigen ersten Band eröffnet worden. Für das barrierefreie Handling wäre freilich eine Portionierung in zwei Bände angenehmer gewesen. Oder in drei.
Ulf Morgenstern