Betül Başaran : Selim III, Social Control and Policing in Istanbul at the End of the Eighteenth Century. Between Crisis and Order (= The Ottoman Empire and its Heritage. Politics, Society and Economy; 56), Leiden / Boston: Brill 2014, viii + 281 S., ISBN 978-90-04-24607-2, EUR 122,00
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In Istanbul herrschte offenbar zu Beginn der 1790er-Jahre, also kurz nachdem Selim III. den Thron bestiegen hatte, ein Gefühl allgemeiner Unsicherheit. Außenpolitisch war man in zwei - aus osmanischer Sicht - mehr schlecht als recht verlaufende Kriege gegen Russland und Habsburg verwickelt. Im Inneren des Osmanischen Reiches hatten sich im Verlaufe des 18. Jahrhunderts vor allem in den Provinzen ökonomische, politische und soziale Veränderungen ergeben, die von der Hauptstadt aus nur schwer einzuschätzen und zu kontrollieren waren. Die Herrschaftselite beschlich das Gefühl, es müsse dringend gehandelt werden, um die Ordnung allerorten aufrechtzuerhalten oder wiederherzustellen. In der Stadt am Bosporus selbst machte man die Unruhe im Reich unter anderem an der steigenden Zahl von Vagabunden, Durchreisenden und Leuten ohne die notwenigen Bürgschaftserklärungen von Ansässigen aus. Um dieser Schar unliebsamer Personen Herr zu werden, waren bereits seit einiger Zeit regelmäßige Kontrollen durchgeführt worden, bei denen beinahe flächendeckend in allen Vierteln eine Bestandsaufnahme von Gebäuden und Bewohnern durchgeführt wurde. Mit der genauen Kontrolle der Bevölkerung sollte, so der Plan, ein städtisches Krisenmanagement einhergehen.
Die Arbeit von Betül Başaran ist der genauen Auswertung von zwölf Inspektionsverzeichnissen aus den Jahren von 1791 bis 1793 gewidmet. Dabei konzentriert sie sich zunächst auf die Geschäfte, Marktplätze und Arbeitskräfte innerhalb der Istanbuler Stadtmauern. Anschließend ergänzt sie ihre Befunde unter Zuhilfenahme weiterer relevanter Quellen (insbesondere Gerichtsprotokolle). Hier stehen die normalen Einwohner in den Wohnvierteln und deren Beschwerden über die mangelnde Sicherheit auf den Straßen im Mittelpunkt des Interesses.
Das Werk besteht aus vier Hauptkapiteln. In "The Eighteenth Century: Defining the Crisis" (13-71) unternimmt die Verfasserin erst einmal eine historische Kontextualisierung. Sie betont dabei, wie gesagt, dass in Istanbul nach den Aufständen von 1730 und 1740 die Zunahme von Immigranten mit dem Zusammenbruch der öffentlichen Ordnung und den damit einhergehenden Missständen in der Stadt in einen direkten Zusammenhang gebracht wurde. Die urbanen Ordnungskräfte unternahmen daraufhin einiges, um das Problem zu beheben. Allerdings wurde schnell klar, dass es sich hier um eine viel größere Herausforderung handelte: es ging schlichtweg darum, dass die herrscherliche Ordnungsmacht grundsätzlich und reichsweit wiederhergestellt werden musste. Diese Grunderkenntnis bildete dann auch den Ausgangspunkt für alle Reformen, die Selim III. (reg. 1798-1807) und Mahmud II. (reg. 1808-1839) im Laufe ihrer Regierungszeiten einführten und vorantrieben.
Das nächste Kapitel ("Wartime Crisis and the New Order: The Policing of Istanbul, 1798-92", 72-105) behandelt die öffentliche Ordnung in Istanbul zu Beginn der Herrschaft von Selim III. Konkret geht es um die Jahre bis 1792. Mit den am 4. August 1791 bzw. am 9. Januar 1792 unterzeichneten Friedensverträgen von Sistova und Jassy endeten die kriegerischen Auseinandersetzungen mit Habsburg und Russland und eine sechsjährige Friedenszeit begann, die bis zu Napoleons Expedition nach Ägypten im Jahr 1798 andauerte. Betül Başaran kommt in diesem Abschnitt auf die zahlreichen und umfassenden Reformen zu sprechen, die von Selim III. initiiert wurden. Ihre Sichtweise fügt sich in den Trend der derzeitigen Forschung: es ist viel zu kurz gegriffen, wenn man die Initiativen des Sultans auf die militärischen und diplomatischen Bereiche beschränkt und als bloße Reaktion auf die internationale und intellektuelle Situation in Europa ansieht. Vielmehr haben wir es mit einem ganzen Reformbündel zu tun, das angesichts mannigfaltiger Herausforderungen die Tiefenstrukturen der multiethnischen und multireligiösen osmanischen Gesellschaft verändern sollte. Vor diesem Hintergrund müssen auch die Verordnungen der frühen 1790er-Jahre in Istanbul gesehen werden, die in dem Buch von Betül Başaran zur Debatte stehen.
Der nun folgende Teil "The Inspection Registers of 1791-93" (106-167) bildet den Kern der Abhandlung. Die Verfasserin wertet hier sehr sorgsam die oben angesprochenen Inspektionsverzeichnisse aus. Insgesamt finden sich auf den Listen 1110 Geschäfte, Ställe, Junggesellenunterkünfte und Gasthäuser. Die Verzeichnisse liefern uns wertvolle Informationen zu den verschiedenen Typen der Läden, den Namen und Titel der Inhaber, Lehrlinge und Bewohner sowie zu den jeweiligen Bürgen. Geschickt nutzt Betül Başaran die Angaben in den Quellen zur Rekonstruktion der verschiedenen, sich überlappenden und durchaus durchlässigen Netzwerke unter den Immigranten, Janitscharen und anderen Vertretern der Ordnungsmacht.
In dem Schlusskapitel "'We have no Security': Public Order in the Neighborhood" (168-213) analysiert die Autorin Gerichtsprotokolle aus der Istanbuler Innenstadt aus den Jahren 1798 und 1793. Auf eine anschauliche Beschreibung der Arbeitsweise der osmanischen Gerichte, des herrscherlichen Rates und der Änderungen in der Verwaltung im 18. Jahrhundert und im Zuge der Reformbemühungen von Selim III. folgt die Auswertung der dokumentierten Fälle. Letzten Endes wird erkennbar, dass die Stadtbewohner eine sehr aktive Rolle bei der Ausgestaltung des urbanen Ordnungssystems spielten und dabei in ihren jeweiligen Gemeinschaften und Gruppen über einen bemerkenswert großen Aktionsraum verfügten.
Betül Başaran hat auf der Grundlage von neuen, spannenden Quellen eine sehr interessante Arbeit geschrieben, die unser Verständnis der Epoche von Selim III. um weitere wichtige Facetten erweitert. Ihr ist zuzustimmen, dass man nicht von einem rationalen Bürokratisierungsprozess im Sinne von Max Weber sprechen kann. Die Versuche von Selim III., in Istanbul mithilfe zahlreicher Maßnahmen für Ordnung zu sorgen, können aber als das ernsthafte Bemühen interpretiert werden, "new administrative structures backed by police authority" aufzubauen "that would enable more effective control and regular surveillance of certain segments of the society in a methodical way." (12) Diese Veränderungen enthielten sowohl traditionelle wie auch innovative Elemente und sind Ausdruck einer produktiven und konstruktiven Transformation - und nicht eines Niederganges oder Verfalls.
Stephan Conermann