Enquetekommission "Verrat an der Freiheit - Machenschaften der Stasi in Niedersachsen aufarbeiten" des Niedersächsischen Landtags: Stasi in Niedersachsen Bd. 1. Ergebnisse der Enquetekommission, Göttingen: Wallstein 2017, 184 S., ISBN 978-3-8353-3165-5, EUR 19,90
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Enquetekommission "Verrat an der Freiheit - Machenschaften der Stasi in Niedersachsen aufarbeiten" des Niedersächsischen Landtags (Hg.): Stasi in Niedersachsen Bd. 2. Tagungsband des Symposiums der Enquetekommission, Göttingen: Wallstein 2017, 186 S., ISBN 978-3-8353-3166-2, EUR 19,90
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Enquetekommission "Verrat an der Freiheit - Machenschaften der Stasi in Niedersachsen aufarbeiten" des Niedersächsischen Landtags / Elke Kimmel: Stasi in Niedersachsen Bd. 3. Findbuch der Enquetekommission, Göttingen: Wallstein 2017, 256 S., zahlr. Tbl., 38 s/w-Abb., ISBN 978-3-8353-3167-9, EUR 22,00
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Thomas Höpel: Opposition, Dissidenz und Resistenz in Leipzig 1945-1989, Leipzig: Leipziger Universitätsverlag 2018
Tobias Wunschik: Honeckers Zuchthaus. Brandenburg-Görden und der politische Strafvollzug der DDR 1949-1989, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2018
Arno Polzin: Mythos Schwedt. DDR-Militärstrafvollzug und NVA-Disziplinareinheit aus dem Blick der Staatssicherheit, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2018
Der Niedersächsische Landtag hat im Februar 2015 die Enquetekommission "Verrat an der Freiheit - Machenschaften der Stasi in Niedersachsen aufarbeiten" eingesetzt. Es ist bundesweit die erste Parlamentskommission, die sich mit dem Wirken des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR (MfS) in einem westdeutschen Bundesland beschäftigt hat. Die 17 beteiligten Abgeordneten und Wissenschaftler haben ihre Untersuchungsergebnisse in drei Bänden publiziert.
Der erste Band dokumentiert die Themenfelder der Kommissionsarbeit: die Ziele des MfS in Niedersachsen sowie die Methoden des DDR-Staatssicherheitsdienstes, mit denen diese Ziele erreicht werden sollten, die Unterwanderung niedersächsischer Behörden, Parteien und Unternehmen durch die SED-Geheimpolizei sowie die vom MfS betriebene Desinformation der Öffentlichkeit. Weiterhin ging die Kommission der Frage nach, in welchem Ausmaß das MfS extremistische und andere politische Bewegungen in Niedersachsen unterstützte und lenkte. In den Blick wurde außerdem genommen, wie die Stasi Sabotagehandlungen vorbereitete und Ziele in Niedersachsen für den Kriegsfall "auskundschaftete". Zudem befasste sich das Gremium mit der Anerkennung der Opfer und ihrer Entschädigung. Ein weiteres Anliegen war es, die Täter zu identifizieren, deren Motive zu klären und Strafverfolgungsmaßnahmen vorzubereiten.
Um politische Informationen im "Operationsgebiet" zu beschaffen, militärische Liegenschaften auszuspähen und Wirtschaftsspionage zu betreiben, griff das MfS auf Berichte von Inoffiziellen Mitarbeitern (IM) in Niedersachsen zurück, die zum Teil freiwillig und aus ideologischer Überzeugung Spitzeldienste leisteten. Die Stasi nutzte auch Auskünfte von DDR-Bürgern, die diese nach dienstlichen oder privaten Westreisen weitergeben mussten, und wertete öffentlich zugängliche Informationen aus. Der Reiseverkehr wurde massiv überwacht. Darüber hinaus war die Missachtung des Fernmelde- und Postgeheimnisses charakteristisch für die Arbeitsweise des MfS. Von besonderer Bedeutung für viele Stasi-Kampagnen im Westen waren Erkenntnisse, die die Hauptabteilung IX/11 in Berlin-Hohenschönhausen aus NS-Schriftgut herausfilterte und bei Bedarf "ergänzte". Mit derartigen Methoden wurden nicht nur NS-Täter enttarnt, sondern auch Politiker diskreditiert und Persönlichkeiten mit ihrer "Vergangenheit vor 1945" erpresst, damit sie mit dem MfS zusammenarbeiteten.
Die Stasi beschäftigte sich in Niedersachsen mit circa 80 Personen des öffentlichen Lebens. Dabei standen nicht nur CDU-Ministerpräsident Ernst Albrecht oder SPD-Mitglieder, sondern auch die Fahrer von Spitzenpolitikern im Fokus des MfS. Die DDR-Geheimpolizei unterstützte den Wahlkampf von mindestens zwei Landtagsabgeordneten. Die größte Spitzelorganisation in Niedersachsen - die "Residentur Mitte" in Garbsen mit fünf Spionen - spähte für das MfS die Bundeswehr und den Militärischen Abschirmdienst aus.
Hochschulen und Universitäten kam in der Rekrutierungspraxis für Zuträger des MfS eine Schlüsselstellung zu. Über das konkrete Vorgehen des Staatssicherheitsdienstes und das genaue Ausmaß seiner Aktivitäten ist bisher nur wenig bekannt. Die Technische Universität Braunschweig hat damit begonnen, die Einflussnahmen der Stasi systematisch zu analysieren.
Im Rahmen einer Anhörung kamen auch Opfer der Stasi-Machenschaften zu Wort. Ihre Berichte sind ein gutes Beispiel dafür, dass mit den Instrumenten der Oral History die Verfolgungspraktiken des MfS nicht nur unter Rückgriff auf Aktenmaterial untersucht und aufgearbeitet werden können. Zu den Opfern zählt auch der 1962 in Hannover geborene Thomas Raufeisen. Sein Vater Armin spionierte im Auftrag des MfS das Industrieunternehmen Preussag aus. Nachdem Stasi-Oberleutnant Werner Stiller 1979 im Westen die Wirtschaftsspionage-Aktivitäten der DDR offengelegt hatte, floh Armin Raufeisen in die DDR. Erst im Osten erfuhren seine Söhne Thomas und Michael, dass ihr Vater ein Stasi-Spion war. Der 16-jährige Thomas musste - gegen seinen Willen - im Osten bleiben, während sein bereits volljähriger Bruder in den Westen zurückgeschickt wurde. Der Familie Raufeisen gefiel das Leben in der SED-Diktatur jedoch nicht. Nach einem fehlgeschlagenen Fluchtversuch wurde sie verhaftet und in der Untersuchungshaftanstalt Berlin-Hohenschönhausen und später in Bautzen II inhaftiert. Erst 1984 konnte Thomas Raufeisen in die Bundesrepublik Deutschland zurückkehren. Heute vermittelt er sein Wissen an Besucher der Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen.
Im zweiten Band schlagen die Beiträge eines Symposiums einen breiten inhaltlichen Bogen: Er spannt sich von einer Betrachtung Daniela Münkels über Ziele, Strategien und Methoden der Westarbeit des DDR-Staatssicherheitsdienstes über die Einflussnahme des MfS auf Justiz und Wissenschaft bis hin zum Wirken der Stasi in einzelnen niedersächsischen Regionen. Jutta Braun befasst sich mit dem "Sportverräter" Lutz Eigendorf. Die Beteiligung der Stasi an dessen "Unfalltod" ist nicht mit Sicherheit auszuschließen. Bernhard Schalhorn beschreibt die Versuche des MfS, die Arbeit der Ost-Akademie Lüneburg zu beeinflussen. Claudia Fröhlich und Hans-Jürgen Grasemann, der von 1988 bis 1994 stellvertretender Leiter und Sprecher der Zentralen Erfassungsstelle Salzgitter war, beleuchten die vielfältigen Bemühungen von DDR-Spionage und SED-Westarbeit, die strafrechtlichen Ermittlungen und die Ermittler von DDR-Unrecht auszuspähen und zu behindern. Es gelang dem MfS jedoch nicht, einen IM in der Zentralen Erfassungsstelle Salzgitter zu platzieren.
Im dritten Band kommentiert Elke Kimmel die Archivalien, die für Niedersachsen die "Arbeit am Feind" der Stasi dokumentieren. Das ist ein wichtiges Hilfsmittel für die Forschung.
Da die erarbeiteten Befunde meist auf Aktenbeständen beruhen, die der Vernichtung durch das MfS 1989/90 entgangen sind, ist es umso wichtiger, dass die Rekonstruktion der zerrissenen Unterlagen durch die Fraunhofer-Gesellschaft und die Stasiunterlagenbehörde gelingt. Hier sind weitere Quellenfunde zu erwarten, die unser Wissen über die Machenschaften des MfS in der alten Bundesrepublik erweitern können. Und nicht zuletzt sollten die bundesdeutschen Nachrichtendienste ihre Erkenntnisse über die Spionage der Stasi fast 30 Jahre nach dem Untergang der DDR endlich vollständig für die Wissenschaft offenlegen.
Die Enquetekommission plädiert dafür, dem Thema "Staatliche Unrechtsherrschaft" im Schulunterricht mehr Bedeutung zuzumessen und es in der akademischen Forschung und Lehre fest zu verankern. Die Empfehlungen enthalten auch die Forderung, die Leistungen für Opfer zu verbessern und Gedenkstätten verstärkt zu fördern. Dem Landtag wird zudem geraten, die Verbindungen von Abgeordneten, niedersächsischen Parteien und MfS systematisch zu untersuchen. Die gesamte Bandbreite der Spionageaktivitäten sollte in einem Verbundprojekt "Stasi in Niedersachsen" ausgeleuchtet werden. Nun gilt es, diese zukunftsweisenden Empfehlungen umzusetzen.
Der Niedersächsische Landtag hat Maßstäbe gesetzt und eine Vorreiterrolle eingenommen: Diesem Beispiel sollten alle alten Bundesländer folgen und das Wirken der Stasi erforschen. Wichtig ist, dass auch die SED als zentraler Akteur der sozialistischen Diktatur in die Untersuchung einbezogen wird. Erst wenn mehr Informationen über die Machenschaften der Stasi im Westen verfügbar sind, wird deutlich werden, welche Kapitel der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland neu zu schreiben sind.
Stefan Donth