Hans-Jürgen Bömelburg (Hg.): Polen in der europäischen Geschichte. Band 2: Frühe Neuzeit. 16. bis 18. Jahrhundert, Stuttgart: Anton Hiersemann 2017, VIII + 924 S., 7 Kt., ISBN 978-3-7772-1710-9, EUR 364,00
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Hans-Jürgen Bömelburg / Norbert Kersken: Mehrsprachigkeit in Ostmitteleuropa (1400-1700). Kommunikative Praktiken und Verfahren in gemischtsprachigen Städten und Verbänden, Marburg: Herder-Institut 2020
Vadim Oswalt / Hannah Ahlheim / Hans-Jürgen Bömelburg u.a. (Hgg.): Ein heimlicher Quellenkanon? Neue Perspektiven auf Dokumente der Geschichte, Frankfurt/M.: Wochenschau-Verlag 2024
Hans-Jürgen Bömelburg / Andreas Gestrich / Helga Schnabel-Schüle (Hgg.): Die Teilungen Polen-Litauens. Inklusions- und Exklusionsmechanismen - Traditionsbildung - Vergleichsebenen, Osnabrück: fibre Verlag 2013
Das vorliegende Handbuch zur Geschichte und Gesellschaft Polens von etwa 1506 bis 1795 bietet für den an diesem Land und dieser Zeit interessierten Historiker substantielle Aufsätze zu vielen relevanten Themen. Allerdings bleibt für einen Osmanisten am Ende der Lektüre doch der Eindruck haften, dass insgesamt eine regionale und keine europäische und schon gar keine globale Perspektive eingenommen wird. Die Anwendung des Europabegriffs auf die sogenannte "Frühe Neuzeit" ist natürlich durchaus problematisch, wird aber an keiner Stelle thematisiert. Dabei haben doch gerade Osteuropahistoriker stets das Problem, dass ihre Gegenstände von der weiterhin dominanten Gleichsetzung der kontinentalen Geschichte mit der Erfahrungswelt des lateinischen Westens marginalisiert werden. Die südöstliche Region des europäischen Kontinents hat man bisher in dem historischen Diskurs über die Frühe Neuzeit eher selten berücksichtigt. Aus einer nicht-europäischen Sicht kann darüber hinaus der gängige Periodisierungsbegriff "Frühe Neuzeit" nicht überzeugen, repräsentiert er doch allzu sehr eine Setzung westeuropäischer Kultur- und Geistesgeschichte.
Geht man allein von einer geographischen Bestimmung Europas aus und schaut sich vor diesem Hintergrund Europakarten an, die die politischen Konstellationen vom 16. bis zum 18. Jahrhundert zeigen, so sieht man auf den ersten Blick, dass das Osmanische Reich räumlich gesehen nach Russland die zweitgrößte europäische Macht darstellt. Allerdings geht das Osmanische Reich auch weit über Europa hinaus, da es über das Mittelmeer und über das Schwarze Meer in zwei weitere wichtige Verflechtungsräume eingebunden ist. Wie lassen sich nun Polen-Litauen, Russland oder gar das Osmanische Reich in einen gesamteuropäischen Zusammenhang einbinden? Wo beginnt und wo endet eigentlich Europa? Von wem wird es definiert? Von uns? Von den Zeitgenossen? Was sind dabei die Kriterien? Sind es geographische? religiöse? kulturelle? sprachliche? wirtschaftliche? Die Frage stellt sich, ob "Europa" für uns überhaupt eine sinnvolle Raumbezeichnung ist. Wäre es nicht viel sinnvoller, zu anderen Raumkonzepten zu kommen? In dem Schwerpunktprogramm "Transottomanica" [1] untersucht man beispielsweise systematisch gesellschaftliche und (trans)kulturelle Verflechtungen zwischen dem Moskauer Reich bzw. Petersburger Imperium, Polen-Litauen, dem Osmanischen Reich sowie Persien von der frühen Neuzeit bis zum Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts. Mit dem Augenmerk auf durch Mobilität entstandene Interaktionsfelder zwischen diesen Herrschaftsgebieten sollen im großräumigen Verflechtungszusammenhang Phänomene erkennbar werden, die bisher in der Betrachtung einzelner Regionen oder nur bilateraler Beziehungen nicht in den Vordergrund getreten sind. Der auch methodisch neue Zugang verspricht, unser Verständnis globalisierter europäischer und asiatischer Geschichte im transkontinentalen Zusammenhang zu verändern. Anstatt "eine" Region zu konstruieren, werden mehrere unterschiedliche Handlungs- und Diskurszusammenhänge durch den gemeinsamen Zugriff über die Linse Mobilität ins Zentrum des Interesses gerückt. Diese 'post-regionalwissenschaftliche' Perspektive erlaubt dabei eine Orientierung an konkretisierten, durch das Erfahren, Imaginieren und Handeln von Menschen in jeweils thematisch definierten Kontexten konstituierten, nicht deckungsgleichen Räumen: die Projekte in dem Schwerpunktprogramm konzentrieren sich auf wechselseitige Vorgänge der Migration, der Wissenszirkulation, des Reisens, des Handels und der Mobilität ganzer Gesellschaften in relationalen sozialen Räumen mit jeweils stark unterschiedlicher Reichweite. In diesem Rahmen sind die mannigfaltigen Bewegungen zwischen dem Osmanischen Reich und Polen-Litauen in einem ganz eigenen Licht zu sehen und müssen gar nicht primär in einen europäischen Kontext eingeordnet werden.
In dem vorliegenden Handbuch findet das Osmanische Reich vorwiegend in einem politisch-militärischen Zusammenhang Erwähnung. Vor allem geht es um die offiziellen osmanisch-polnischen Kriege im 17. Jahrhundert (1620-21, 1633-34, 1672-76, 1683-99), die alle recht gut erforscht worden sind und auf die an dieser Stelle daher nicht im Detail eingegangen werden muss. In der Tat bildeten die Auseinandersetzungen mit den Osmanen bis weit in das 17. Jahrhundert hinein "ein wichtiges, aber nicht das wichtigste Element in der Außenpolitik Polen-Litauens" (403), zumal zwischen beiden Reichen ein nur wenig bewohnter Grenzraum existierte, in dem Krimtataren, Nogaier und Kosaken einen permanenten Kleinkrieg gegeneinander führten. Für den gesamteuropäischen Zusammenhang waren dann die Niederlagen der Osmanen in dem durch die Belagerung Wiens 1683 ausgelösten Krieg gegen die daraufhin 1684 gegründete Heilige Liga [Heiliges Römisches Reich, Kirchenstaat, Venedig, Polen-Litauen und Russisches Zarenreich (seit 1686)] von großer Bedeutung. Der Friede von Karlowitz 1699 wurde für das christlich-abendländische Europa - wie schon die osmanische Eroberung Konstantinopels im Jahre 1453 - zu einem zentralen Erinnerungsort. Ob es auf der anderen Seite eine traumatische kollektive Erfahrung gewesen ist, sei einmal dahingestellt. Das 18. Jahrhundert kommt dann nur am Rande vor. In der Rzeczpospolita kann man die Tendenz beobachten, das Osmanische Reich zunehmend in orientalisierender Weise als einen eher exotischen Herrschaftsverband anzusehen. Die anderen europäischen Staaten nahmen die Hohe Pforte - wie auch Polen-Litauen - nun als Schwachpunkt in dem von ihnen als Idealzustand postulierten Gleichgewicht der Mächte wahr. Polen-Litauen konnte sich interessanterweise im 18. Jahrhundert nicht mehr als Teil eines gemeinsamen christlich-abendländisch-europäischen Sinnzusammenhanges definieren, denn die Bedrohung durch nicht-katholische Mächte wie Rußland, Schweden und Preußen nahm stetig zu (285).
Welche osmanisch-polnischen Themen finden sich noch in dem Handbuch? Nur kurz genannt werden der von Armeniern kontrollierte Fernhandel zwischen Polen-Litauen und dem Osmanischen Reich (40) und das angesichts der allgemeinen "Türkengefahr" und der eigenen militärischen Konfrontation mit dem Osmanischen Reich nach 1620 medial verbreitete polnische Selbstbildnis einer antemurale christianitatis (336). Etwas ausführlicher kommen noch zwei interessante Punkte zur Sprache: zum einen die Minderheit der etwa 8.000-15.000 Tataren innerhalb des polnisch-litauischen Territoriums (731-735). Behandelt werden diese Nachkommen und Mitglieder von Einheiten, die insbesondere das Großfürstentum Litauen in sein Heer integriert hatte, als Sondergruppe mit einer sehr eigenen kulturellen Identität. Zum anderen widmet sich der Herausgeber Hans-Jürgen Bömelburg in dem letzten Kapitel des Handbuches gesondert dem Phänomen "Sarmatia - Sarmaten - Sarmatismus" (843-861). Irgendwie wird man den Eindruck nicht ganz los, dass die Polen- und Litauenhistoriker sich mit der Einordnung dieser kulturellen Selbstverortung des polnischen Adels im 17. und 18. Jahrhunderts schwer tun. Allzu merkwürdig, allzu exotisch scheinen die genealogische Besinnung auf die Sarmaten und die Übernahme türkisch-osmanischer Gebräuche, die dann auch Eingang in die Bildende Kunst, Architektur, Literatur und Alltagskultur fanden, zu sein. Anstatt dieses Phänomen als "kulturhistorisches Faszinosum" (861) verstehen zu wollen oder gar als Argument für einen Niedergang der polnischen Adelsgesellschaft zu verwenden (was Bömelburg nicht tut), könnte eventuell eine vergleichende Analyse ähnlich gelagerter kultureller Übernahmen und Aneignungen an anderen Orten helfen, derartige Hybridisierungsprozesse besser zu verstehen.
Damit wären wir beim Fazit angelangt: Das Handbuch deckt in Bezug auf die Beziehungen zwischen Polen-Litauen und dem Osmanischen Reich die zu erwartenden Themen ab. Allerdings gibt es noch eine ganze Reihe von weiteren Gegenständen, deren genauere Untersuchung lohnte. Beispielsweise: (1) Eine vergleichende Imperiengeschichte, die die Hohe Pforte in Bezug etwa zur Habsburger Monarchie, zur Rzeczpospolita, zum Russischen Reich oder zu Frankreich setzt. (2) Eine gesamteuropäische Geschichte der Kriegs-, Gleichgewichts- und Sicherheitspolitik mit einem Schwerpunkt auf den Entwicklungen in Polen-Litauen und dem Osmanischen Reich. (3) Die beidseitige Etablierung von kulturellen Grenzen. (4) Der überregionale Handel von Luxusgütern. (5) Eine komparative Analyse der Aufnahme orientalischer Inhalte und Strukturelemente in die polnische Literatur und Historiographie auf der einen und der Aneignungsprozesse in der "Tulpenzeit" auf der anderen Seite. (6) Eine Auswertung der narrative Strategien in Reise- und Botschaftsberichten. Hier kommen etwa auf osmanischer Seite die Texte der Gesandten Mehmed Efendi (1730), Mehmed Said Efendi (1732/33), Ziştoylu Ali Ağa (1754/55), Derviş Mehmed Efendi (1755) und Ebûbekir Merâmî Efendi (1757/58) in Betracht.
Was aber wären nun Möglichkeiten, aus den engen Grenzen der etablierten Interpretationsmuster herauszukommen? Es bietet sich neben der oben angedeuteten Strategie, Mobilität oder Netzwerke zu den einen Raum bestimmenden Einheiten zu machen, an, den zu betrachtenden räumlichen Ausschnitt zu vergrößern. Wenn schon "Europa", dann wenigstens Gesamteuropa, d.h. unter Berücksichtigung von Osteuropa, Südosteuropa und der "Ränder" (Skandinavien, Iberische Halbinsel, Großbritannien). Eine andere Möglichkeit besteht darin, die Zeit von 1506 bis 1795 ernsthaft in einen globalgeschichtlichen Gesamtzusammenhang zu stellen. Dabei kann als größte Herausforderung gelten, nicht bloß weiter europäische Expansionsgeschichte zu betreiben, sondern wirklich zu versuchen, die Perspektive zu wechseln. Globalgeschichten aus der Sicht des Osmanischen Reiches, des Mogulreiches oder des Chinesischen Reiches sind aber leider erst noch zu schreiben. Schließlich mag es reichen, allein das Scheinwerferlicht auf andere Verflechtungsräume zu lenken. Außer den typischen Kommunikationszentren um die großen Ozeane herum könnten Crossroads Areas [2] wie der Balkan, Zentralasien, "Transottomanica" oder das Südchinesische Meer in den Mittelpunkt gerückt werden.
Zurück zum Handbuch: das Osmanische Reich und Polen-Litauen müssen meines Erachtens in Zukunft besser in eine gesamteuropäische Frühneuzeitforschung integriert werden. Die politischen, kulturellen und wirtschaftlichen Interaktionen zwischen den beiden Herrschaftsverbünden sind noch intensiver zu analysieren und dann in einen größeren Zusammenhang einzubetten. Hat man sich erst einmal von der bis heute nachwirkenden zeitgenössischen diskursiven Differenzzuschreibung Christliches Abendland (positiv) vs. Muslimisch-Türkischer Orient (negativ) gelöst, stellt man zudem fest, dass das Osmanische Reich in der betrachteten Epoche ein entscheidender Akteur im mediterranen, südeuropäischen und gesamteuropäischen Raum gewesen ist.
Anmerkungen:
[1] Siehe www.transottomanica.de
[2] Siehe www.crossroads-asia.de
Stephan Conermann