Constant J. Mews / Anna Welch (eds.): Poverty and Devotion in Mendicant Cultures, 1200-1450 (= Church, Faith and Culture in the Medieval West), London / New York: Routledge 2016, XII + 213 S., 4 s/w-Abb., ISBN 978-1-4724-3732-7, GBP 95,00
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Spätestens seit der einflussreichen Monografie von Herbert Grundmann über die religiösen Bewegungen des Mittelalters (1935) gilt der Zusammenhang zwischen städtischer Entwicklung, Armutsbewegung und Etablierung der Bettelorden als ein geradezu klassisches Thema der internationalen Mittelalterforschung. Mehrere Sammelwerke der Società Internazionale di Studi Francescani haben sich in den letzten 50 Jahren einzelnen Aspekten des breiten Themenkomplexes gewidmet. Auch in den Bänden der Reihe Vita regularis sind Fragen der Ethik und Armutsauffassung in den spätmittelalterlichen religiösen Orden immer wieder aufgegriffen worden. Der vorliegende, von Constant J. Mews (Monash University) und Anna Welch (Melbourne) herausgegebene Sammelband setzt sich zum Ziel, kirchen-, sozial-, theologie- und literaturgeschichtliche Ansätze stärker in Verbindung zu bringen, um das Verhältnis zwischen unfreiwilliger und freiwilliger Armut in den Diskursen und Frömmigkeitspraktiken der Minder- und Predigerbrüder besser zu beleuchten. Ein räumlicher oder zeitlicher Schwerpunkt ist dabei nicht zu erkennen. Vielmehr werden durch einzelne Fallstudien Einblicke in verschiedene Quellen und Räume vom 13. bis zum 15. Jahrhundert geboten.
Die Armutsauffassung innerhalb des Minoritenordens und der Streit um die richtige Auslegung der Franziskusregel stehen im Mittelpunkt der ersten Sektion. Constant J. Mews geht in seinem überblicksartigen Beitrag auf die verschiedenen Gewichtungen der paupertas in den institutionalisierten, religiösen Lebensformen des Mittelalters (13-31) ein: Während im Zentrum der Benediktsregel noch stabilitas, conversatio morum und oboedientia standen, und die in der vita regularis des 12. Jahrhunderts besonders populäre Augustinusregel das apostolische Ideal der communio stark hervorhob, kam es erst mit Dominikus und vor allem mit Franziskus zu einer beispiellosen Aufwertung der Armut, und dies auch in normativen Texten. Gerade in der Entwicklung der paupertas von einer alltäglichen Praxis zu einem intellektuellen Diskurs sieht der Verfasser einen der Hauptgründe für die dramatische Spaltung des Minoritenordens am Ende des 13. Jahrhunderts.
Die Bulle Exivi de paradiso interpretiert Riccardo Saccenti (32-44) als einen ernsthaften Versuch Clemens' V., den Streit innerhalb des Ordens zu lösen, indem er eine gewisse Freiheit bezüglich der Auslegung der Regel erlaubte und somit sowohl den rigorosen Ansatz der Spiritualen als auch die realistische Einstellung der Konventualen für legitim erklärte. Mit dem Armutsbegriff im Werk Arbor vitae crucifixae Iesu Christi des Ubertino von Casale befasst sich Campion Murray in seinem Aufsatz (45-60) und stellt dabei einen wesentlichen Unterschied zwischen den ersten vier Büchern und dem fünften Teil fest: Wird in den ersten Abschnitten die Armut als Ideal und Tugend mit Bezug auf das Evangelium betrachtet, ist sie im letzten Liber das polemische Werkzeug, um diejenigen Minoriten anzugreifen, die der Franziskusregel gemäß der laut Ubertino illegitimen päpstlichen Auslegung folgten. Mit der Fortführung der geistigen Traditionen der Spiritualen durch die sogenannten fraticelli beschäftigt sich der Aufsatz von Antonio Montefusco (61-76): Ausgehend von handschriftlichen Befunden aus der Nationalbibliothek in Florenz rekonstruiert er die Grundzüge eines florentinischen Dissidenten-Netzwerks des ausgehenden 14. Jahrhunderts, an dem nicht nur Semireligiosen, sondern auch Magnaten wie Amaretto Mannelli beteiligt waren.
Im ersten Beitrag der zweiten Sektion, die den Frömmigkeitskulturen (devotional cultures) gewidmet ist, setzt sich Anna Welch mit der Darstellung der Vogelspredigt Franziskus' in den hagiografischen Quellen des 13. und 14. Jahrhunderts auseinander (79-91): Den Kern des Textes sieht die Verfasserin in einer möglichen Anlehnung an die Aufforderung Jesu, die Vögel als Modell der Sorglosigkeit zu nehmen. Die Überarbeitungen durch die offizielle Geschichtsschreibung des Ordens (allen voran durch Bonaventura) zielte hingegen laut Welch auf die Verklärung des Franziskus als mystischen und unnachahmlichen Prediger ab. Die ikonografischen Darstellungen von Franziskus und Maria Magdalena in den Tafeln der Maler Giuliano von Rimini, Giovanni del Biondo und Giovanni di Paolo werden von Claire Renkin Revue aufgegriffen und im Kontext der franziskanischen Literatur über die Gestalt der Magdalena behandelt (92-104). Der Aufsatz von Earl Jeffrey Richards (105-127) stellt ein weiteres Frömmigkeitsmedium in den Mittelpunkt, das berühmte Gebet Anima Christi (Ägidius Romanus, um 1315). Der berühmte, eucharistische Hymnus wird hier als Beispiel für eine fruchtbare Wechselwirkung zwischen der Kultur der kirchlichen Kultureliten und der Volksfrömmigkeit (popular piety) angeführt, denn durch seine Übersetzung in mehrere Volkssprachen kam es zu einer breiten Rezeption eines anspruchsvollen theologischen Motivs, das die persönliche Beziehung zum eucharistischen Christus hervorhob. Einblicke in die Verehrung eines mendikantischen Heiligen in einem überschaubaren, geografischen Raum bietet Marika Räsänen (128-148). Zum einen schildert sie die Schwerpunkte der im Rahmen des Kanonisationsverfahrens für Thomas von Aquin abgelegten Zeugenaussagen, vor allem derjenigen aus der Gegend von Fossanova (wo sich das Grab befand). Zum anderen setzt sie sich mit der Frage der Verlegung einer wertvollen Reliquie, des Hauptes Thomas' in die Kathedralkirche von Priverno auseinander. Letzteren Umstand bringt die Verfasserin mit dem Vorhaben der Zisterzienser von Fossanova in Verbindung, Fuß in der Stadt zu fassen und größeren Einfluss auf die lokale Frömmigkeit auszuüben.
Die Beiträge der dritten und letzten Sektion gelten der Predigt über die Armut innerhalb des Ordo fratrum Praedicatorum. Ausgehend von Texten des Petrus Ferrandi, Konstantin von Orvieto und Humbert von Romans beleuchtet Anne Holloway den pragmatischen Ansatz des Dominikanerordens bezüglich der Armut, die nie als ein Ideal an sich charakterisiert wurde, sondern vielmehr als eine der Tugenden, die einen erfolgreichen Prediger auszeichnen sollten (151-163). Johnny Grandjean und Gøgsig Jakobsen zeigen in ihrem gemeinsamen Beitrag zur dominikanischen Armutspredigt und -praxis in Skandinavien, wie groß die Kluft zwischen Norm und Wirklichkeit sein konnte (164-184): In Nordeuropa entwickelten sich die Dominikanerkirchen schon ab dem ausgehenden 13. Jahrhundert zu reich ausgestatten Einrichtungen, in denen die Armut eher gepredigt als praktiziert wurde, sodass es selbst zur Zeit der Observantenreform zu großzügigen Schenkungen durch Herrscher und Magnaten kam. Die Studie von Lidia Negoi geht der Frage nach, wie die Summa de abstinentia, ein erfolgreiches, dem frater (wohl einem Dominikaner oder Franziskaner) Nicholas Byard zugeschriebenes Predigthandbuch, in katalanischen und aragonensischen Dominikanerkonventen im 14. und 15. Jahrhundert abgeschrieben und verwendet wurde (185-197). Ihre Handschriftenanalyse zeigt, dass paupertas nie ein alleiniges Predigtthema bildete und man stets zwischen paupertas voluntaria und involuntaria unterschied, wobei nur Erstere als Tugend galt und Letztere durch die patientia zu überwinden war. Der Florentiner Erzbischof Antonino Pierozzi (1446-1459) gilt als Vertreter der dominikanischen Observantenbewegung, scholastischer Theologe und scharfsinniger Beobachter der Wirtschaftsdynamik seiner Zeit. Im letzten Beitrag des Bandes behandelt Peter Howard die Predigttätigkeit des Antoninus und stellt dabei eine starke Thematisierung der unfreiwilligen Armut fest (198-209). Die kommunikative Strategie des Dominikaners, die ihre Modelle in Gregor dem Großen und Heinrich von Rimini hatte, zielte darauf ab, die Fürsorge der Reichen für die Armen als unverzichtbaren Bestandteil einer beispielhaften Stadtrepublik darzustellen - was zu einem stärkeren Engagement der wohlhabenden Bürger hätte führen sollen.
Aufgrund einer gewissen Heterogenität der Beiträge könnte man den Band als eine Sammlung von Bausteinen über Gewichtungen, Auffassungen und Instrumentalisierungen der paupertas bei den beiden größten Bettelorden des späten Mittelalters resümieren. Wenn man allerdings nach dem anvisierten Publikum fragt, kommen einige Zweifel über die Konzeption des Bandes auf. Der Anfänger vermisst eine Einordnung der behandelten Themen in den Stand der Forschung sowie die Erwähnung von eventuellen Forschungsperspektiven. Auch eine deutlichere Präzisierung des oft vorkommenden Begriffes Volksfrömmigkeit (popular piety) wäre wünschenswert gewesen. Der Experte fragt sich hingegen, ob bei einigen Aufsätzen tatsächlich etwas Neues ans Licht kommt, wieso die deutsche und italienische Mediävistik so wenig herangezogen wurden und ob bei manchen Angaben (z.B. bei denen zur Entstehungszeit der Franziskusviten, 80) die aktuellste Forschung berücksichtigt wurde.
Diesen kritischen Anmerkungen zum Trotz enthält der Sammelband doch einige qualitätsvolle und anregende Beiträge. Hervorzuheben sind insbesondere die Studien von Antonio Montefusco, Marika Räsänen und Lidia Negoi, die aus zum Teil unerschlossenen Materialien hervorgegangen sind.
Étienne Doublier