Annika Tammen: Frühmoderne Staatlichkeit und lokale Herrschaftsvermittlung. Normgebung und Herrschaftspraxis im Herzogtum Holstein des 17. und 18. Jahrhunderts (= IZRG-Schriftenreihe; Bd. 18), Bielefeld: Verlag für Regionalgeschichte 2017, 408 S., 4 s/w-Abb., 4 Tbl., ISBN 978-3-7395-1018-7, EUR 29,00
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Die regionalgeschichtliche Studie von Annika Tammen, basierend auf ihrer Doktorarbeit, die 2015 an der Europa-Universität Flensburg eingereicht wurde, trägt zu den aktuellen Forschungen zur Staatsbildung in den Territorien des Heiligen Römischen Reiches bei. Insbesondere geht es um die Normgebung der beiden Herrscher im Herzogtum Holstein, somit auch um deren Gestaltungswillen und Engagement in diesen Territorien, und um die Durchsetzung dieser Normen in der Rechtspraxis, speziell in den lokalen Gerichten.
Eine besondere Herausforderung der vorliegenden Arbeit war sicherlich die ungewöhnliche Struktur des Herzogtums Holstein, welches zwar dem Heiligen Römischen Reich angehörte, jedoch gleichzeitig mit dem dänischen Herzogtum Schleswig "unteilbar" verbunden war. Zahlreiche Landesteilungen führten dazu, dass die Herrschaft der beiden Herzogtümer durch die dänischen Könige und die Gottorfer Herzöge (die eng verwandt waren) nach Ämtern aufgeteilt war und es somit in beiden Herzogtümern sowohl dänisch als auch gottorfisch und schließlich auch gemeinsam regierte Ämter gab. Aus dieser komplexen Situation ergab sich damit auch die Konstruktion, dass der gottorfische Herzog in seinen holsteinischen Besitzungen ein Lehnsmann des Kaisers war und in seinen schleswigschen Besitzungen ein Lehnsmann des dänischen Königs, mit dem er wiederum in den gemeinsamen Anteilen zusammen regierte (unter kaiserlicher oder dänischer Lehnsherrschaft). Der dänische König war schlussendlich in seinen holsteinischen Besitzungen ebenfalls ein Lehnsmann des Kaisers und somit erneut auf gleicher Ebene wie der Gottorfer. Wem jetzt der Kopf brummt, dem empfehle ich die Studie von Annika Tammen, der es durchaus gelingt, diese Verhältnisse verständlich und nachvollziehbar zu machen. Dazu konzentriert sie sich auf die detaillierte Untersuchung zweier Ämter: das gottorfisch regierte Amt Bordesholm sowie das dänisch regierte Amt Segeberg. Interessant wäre sicher noch die Hinzunahme eines gemeinschaftlich regierten Amtes gewesen, wobei damit aber vermutlich der Fokus der Untersuchung stärker auf der Zusammenarbeit zwischen den Landesherren als auf der Normsetzung und Herrschaftspraxis gelegen hätte.
Annika Tammen fügt den Forschungen zur frühneuzeitlichen Herrschaftsvermittlung im Alten Reich mit ihrer Studie zu Holstein ein weiteres Fallbeispiel hinzu. Der Fokus liegt dabei ebenfalls auf der Dorf- und Amtsebene - auf dem Blick von "unten" -, weniger auf den Herrschern. Die vorliegende Untersuchung umfasst einen Zeitraum etwa von der Mitte des 17. Jahrhunderts bis in die 1770er-Jahre. Dazu wurden die landesherrlichen Verordnungen, Bittschriften und Suppliken sowie Gerichtsakten, die sich im Landesarchiv Schleswig-Holstein in Schleswig befinden, ausgewertet. Theoretisch beruft sich Tammen u.a. auf die Forschungen Gerhard Oestreichs zur Sozialdisziplinierung, auf die Arbeiten Winfried Schulzes zur Verrechtlichung sozialer Konflikte sowie auf die Theorien zur gesellschaftlichen Ordnung von Karl-Sigismund Kramer und Keith Wrightson. Weiterhin spielen die Untersuchungen von Stefan Brakensiek zu Amtsträgern sowie die von Achim Landwehr zu frühneuzeitlichen Policeyordnungen eine tragende Rolle.
Die Arbeit nimmt insbesondere die rechtliche Seite von Herrschaftsvermittlung in den Blick, und zwar sowohl auf der normativen als auch auf der praktischen, d.h. der Gerichtsebene. Der Leser erfährt zahlreiche Details zur Verwaltung auf der kommunalen Ebene und der Veränderung dieser Strukturen, sowohl auf normativer Ebene (durch die landesherrlichen Erlasse) als auch auf praktischer Ebene (durch Berichte über die Zustände, soweit diese in Suppliken oder Gerichtsprozessen deutlich werden). Die unvermeidbaren Lücken der Darstellung aufgrund fehlender Quellen oder Verschriftlichung reflektiert die Autorin durchaus kritisch in ihren zahlreichen Hinführungen und Zusammenfassungen. Der Rezensentin gefiel in diesem Zusammenhang insbesondere die gelungene Leserlenkung und die leichte Zugänglichkeit des Textes. Kritikern eines solchen Schreibstils werden zahlreiche Redundanzen unangenehm auffallen - aber am Ende ist das Geschmackssache!
Der größte Kritikpunkt meinerseits betrifft die Literaturauswahl: Mehrfach betont die Autorin, dass nicht ausreichend Studien zu Holstein vorlägen, was auch als Argument für die häufige Nutzung der Darstellungen des 18. und 19. Jahrhunderts als letztgültigem Forschungsstand dient (z.B. 72). Der Blick in das Quellen- und Literaturverzeichnis offenbart jedoch, dass sich sämtliche fremdsprachige Literatur (oder Quellen) an einer Hand abzählen lässt. Diese fünf fremdsprachigen Titel aus dem insgesamt 46-seitigen Quellen- und Literaturverzeichnis sind alle in englischer Sprache, das naheliegendere Dänisch fehlt gänzlich. So wurden zwar deutsche Übersetzungen dänischer Quellen und deutsche Texte dänischer Autoren genutzt, doch die reichhaltige Literatur zu hertugdømmerne (den Herzogtümern) entgeht der Autorin. Der mögliche Einwand, dass schließlich eine Vielzahl der offiziellen Quellen auch in den dänischen Gebieten auf Deutsch entstanden seien, löst dennoch nicht das Problem des Ignorierens einer ganzen relevanten Forschungsdiskussion. Eine schnelle Suche in der Historisk Tidsskrift (der dänischen HZ) ergab allein 500 Treffer bei Holsten (Holstein), über 400 Treffer zu hertugdømmerne und immer noch mehr als 50 Treffer allein für Segeberg. Selbst wenn man die Publikationen zum Mittelalter und zum 19. Jahrhundert abzieht, ist diese eklatante Lücke auffällig und schlägt sich auch in einigen Interpretationen nieder: So überrascht Kenner der skandinavischen Rechtsverhältnisse die hohe Bedeutung des Dinges deutlich weniger als es offenbar die Autorin überrascht hat (96 und 341f.). Des Weiteren bekommt durch die Einbeziehung der dänischen Nationalbiografie (Dansk biografisk Lexikon) auch eine ausführlich geschilderte Episode um die Missstände im Amt Segeberg neue Bedeutung: Es wird dadurch deutlich, dass der laut Tammen allein verantwortliche Amtmann Segebergs, Anton Günther Hanneken, in den ersten acht Jahren seines Amtes (1712-1720) nur Vize-Amtmann war und auch in den weiteren Jahren bei Weitem nicht der einzige Amtmann in Segeberg war, wie es die Autorin impliziert (183f. sowie 205f.). Zudem kann durch Einbezug der DBL geklärt werden, dass Hanneken 1738 im Amt verstarb und es dementsprechend nicht zu einem Rücktritt kam (193).
Neben der dänischen Forschungsdiskussion fehlen auch einige einschlägige englische Titel, insbesondere zum Problem frühneuzeitlicher Staatsbildung, einschließlich der Publikationen, die aus dem ESF-Projekt The Origins of the Modern State in Europe entstanden sind, welches besonders die Staatsbildung von unten herausgearbeitet hat. [1] Einzig die Publikationen André Holensteins aus diesem Kreis wurden beachtet. Die aktuell ertragreiche englischsprachige Forschung zu history from below und insbesondere zu Petitionen und Suppliken als Mittel der Herrschaftsaushandlung fehlt dementsprechend ebenfalls. [2]
Ihre Stärke besitzt Annika Tammens Studie dagegen im Detail: Die Herausarbeitung dörflicher Strukturen und Dorfordnungen sowie einzelner signifikanter Fälle für die Herrschaftspraxis Holsteins, die den Hauptteil der Arbeit ausmachen, entfaltet ein Panorama der frühneuzeitlichen kommunalen Verwaltung sowie des dörflichen Lebens in all seinen Konflikten. In ihrem gut geschriebenen Fazit kann Tammen sieben Thesen aufstellen zur Rolle der Amtmänner, dem Verhältnis zwischen Untertanen und Fürsten, dem hohen Interesse der Landesherren an regelmäßiger Steuerzahlung, zum Aufrechterhalten der kommunalen Ordnung sowie - meines Erachtens die spannendste Erkenntnis - zum unterschiedlichen Interesse und den divergierenden Werten der Landesherren und der Dorfgemeinschaften, die in der Normgebung und Praxis von Policeyordnungen zutage treten.
Anmerkungen:
[1] Hier ist die Buchreihe The Origins of the Modern State in Europe, 13th to 18th Centuries zu nennen, die von Wim Blockmans und Jean-Philippe Genet bei Oxford UP in sieben Bänden zwischen 1995 und 2000 herausgegeben wurde. Weiterhin wäre auch der Band von Wim Blockmans / André Holenstein / Jon Mathieu: Empowering Interactions. Political Cultures and the Emergence of the State in Europe, 1300-1900, Aldershot 2009, in diesem Kontext unbedingt relevant gewesen.
[2] Vgl. z.B. das Projekt digitalisierter Londoner Petitionen inkl. der wissenschaftlichen Kommentierung: Tim Hitchcock / Robert Shoemaker / Sharon Howard / Jamie McLaughlin (u.a.) (Hgg.): London Lives, 1690-1800 (www.londonlives.org); oder auch den Band von Richard W. Hoyle (Hg.) / Danae Tankard (transcriber) / Simon R. Neal (indexer): Heard before the King: registers of petitions to James I, 1603-1616, Part 1 (= List & Index Society, Special Series; 38), Kew 2006 oder Lex Heerma van Voss (Hg.): Petitions in Social History, Cambridge 2001.
Cathleen Sarti