Steffen Höhne / Anna-Dorothea Ludewig / Julius H. Schoeps (Hgg.): Max Brod (1884-1968). Intellektuelles Prag im 19. und 20. Jahrhundert (= Intellektuelles Prag im 19. und 20. Jahrhundert; Bd. 9), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2016, IV + 408 S., ISBN 978-3-412-50192-1, EUR 50,00
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Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.
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Max Brod ist uns heute vor allem als Freund und Mentor Franz Kafkas sowie als Verwalter von dessen literarischem Nachlass in Erinnerung. Allerdings geht die Bedeutung des 1884 in Prag geborenen und 1968 in Tel Aviv verstorbenen Brod weit über dieses Engagement hinaus, war er doch selbst ein höchst produktiver Autor, Übersetzer, Journalist und Kritiker, aber auch Kulturförderer und Politiker. Mit dem Ziel, möglichst viele Aspekte von Brods Leben und Schaffen zu erhellen, veranstaltete das Potsdamer Moses-Mendelssohn-Zentrum für europäische Studien in Verbindung mit deutschen und tschechischen Kooperationspartnern im Mai 2014 in Prag eine Tagung, aus welcher der vorliegende Sammelband hervorgegangen ist. Dieser enthält neben dem Vorwort der Herausgeber 22 Beiträge, die sich auf fünf thematische Blöcke von unterschiedlicher Länge verteilen.
Dass es auch in diesem Buch nicht ganz ohne Kafka geht, wird aus den beiden Beiträgen des ersten Blocks ersichtlich, die diverse Gesichtspunkte des Verhältnisses von Brod und Kafka beleuchten. Dabei spürt Hans-Gerd Koch dem gemeinsamen Weg der beiden so eng verbundenen und doch so unterschiedlichen Persönlichkeiten nach und zeigt unter anderem, wie der impulsive Brod den unsicheren Freund davon überzeugen konnte, sich mit seinen Werken an die Öffentlichkeit zu wagen. Der zweite Artikel (Julius H. Schoeps) greift die Kontroversen um die Deutung von Kafkas Schaffen in der Zeit nach dessen Tod zwischen Brod und anderen bedeutenden Vertretern des jüdischen Geisteslebens (Gershom Scholem, Walter Benjamin, Hans-Joachim Schoeps) auf.
Die sechs Beiträge des folgenden Blocks befassen sich mit Brods eigenem literarischen Schaffen aus gattungstypologischer und thematischer Sicht. Hierbei ergeben sich leider einige konzeptionelle Schieflagen. So finden sich zwar kompetente Überblicksdarstellungen zu Brods Lyrik (Ingeborg Fiala-Fürst) und Dramatik (Klaus Völker), doch fehlt eine spezielle Untersuchung zu seinem erzählerischen Werk, auf dem Brods literarische Bedeutung in erster Linie beruht. Immerhin stützen sich zwei themenbezogene Aufsätze im Wesentlichen auf exemplarische Romane: eine Abhandlung zu Brods literarischem Frauenbild, insbesondere seiner Darstellung von Jüdinnen (Anna-Dorothea Ludewig), und eine Studie zu den Prag-Erinnerungen in den Werken der Tel Aviver Jahre (Hans Dieter Zimmermann). Nicht plausibel erscheint es, dass man gleich zwei Beiträge aufgenommen hat, bei denen die - zudem weitgehend deckungsgleiche - Interpretation ein und desselben Gedichts, "Die neue Stadt" aus der Anthologie Kriegslieder deutschböhmischer Dichter (1916), im Mittelpunkt steht (Karl Braun, Jaromír Czmero).
Der nächste, mit sieben Aufsätzen umfangreichste Block befasst sich mit der zentralen Thematik des Bandes: der des "Prager Kreises". Dieser von Brod in seiner bekannten Monografie von 1966 [1] als Etikett für die deutschsprachige Literatur Prags beziehungsweise generell Böhmens und Mährens geprägte Begriff wird zunächst in mehreren Beiträgen auf seine Funktionalität hin kritisch überprüft, und zwar unter literaturgeschichtlichem (Manfred Weinberg), autobiografischem (Jörg Krappmann) und medialem Blickwinkel (Steffen Höhne). Die Untersuchungen zur Entwicklung der Wertungskriterien in Brods literaturkritischer Tätigkeit (Štěpán Zbytovský) sowie zu seinen Bemühungen um die sprachliche Norm des "Prager Deutschen" (Boris Blahak) vermitteln einen guten Eindruck davon, wie sich Brod zunehmend zur tonangebenden Autorität in der deutschsprachigen Intellektuellenszene Prags aufschwang. Um Brods politische Anschauungen geht es in den beiden letzten Beiträgen dieses Blocks, die seine Entwicklung zum Zionisten (Gaëlle Vassogne) und seine Stellung innerhalb der unterschiedlichen Orientierungen des Prager Zionismus (Mark H. Gelber) behandeln.
Die folgenden drei Aufsätze stellen uns Brod als "Kulturvermittler" zwischen deutscher und tschechischer Sphäre vor. Seine Übersetzungen der Libretti von Leoš Janáčeks Opern haben dem tschechischen Komponisten in entscheidendem Maße mit zum internationalen Durchbruch verholfen (Alena Wagnerová). Die zeitgenössische Rezeption der Werke Brods, insbesondere bei den Tschechen, beleuchtet Barbora Šrámková, während Marek Nekula auf Brods intensive Beschäftigung mit dem tschechischen Nationalschriftsteller Karel Sabina eingeht, der 1872 im 19. Jahrhundert als österreichischer Polizeispitzel entlarvt wurde.
Der letzte Themenblock ist mit "Prager Kontexte" überschrieben und macht uns zunächst mit zwei wichtigen jüdischen Persönlichkeiten aus dem Umfeld von Brods Prager Wirken bekannt: dem Schriftsteller und Journalisten Ludwig Winder, dem Kulturredakteur der deutschsprachigen Tageszeitung Bohemia (Peter Becher) und dem Journalisten Willy Haas, Brods großem Konkurrenten als Organisator des kulturellen Lebens und Förderer literarischer Talente (Christoph von Ungern-Sternberg). Ebenfalls aus dem deutsch-jüdischen Milieu stammte die 1850 in Prag geborene, seit 1871 in Berlin lebende Schriftstellerin Auguste Hauschner, zu der Brod rege persönliche und briefliche Kontakte unterhielt (Hannah Lotte Lund). In einer etwas ausführlicheren Studie präsentiert Vassogne am Ende des Bandes die Ergebnisse ihrer Beschäftigung mit den im Prager Museum der tschechischen Literatur aufbewahrten Briefen Brods aus dem Zeitraum 1907-1963.
Den Herausgebern kommt das große Verdienst zu, mit ihrem Sammelband einer wichtigen, bislang eher unterbelichteten Problematik der deutsch-jüdisch-böhmischen Kulturgeschichte die gebührende Aufmerksamkeit verschafft zu haben. Die von anerkannten Fachleuten aus unterschiedlichen Disziplinen verfassten Beiträge, seien es Einführungs- und Überblicksdarstellungen oder speziellere, stärker detailorientierte Untersuchungen, vermitteln ein anschauliches Bild von den vielen Interessens- und Wirkungsbereichen Brods und den mannigfaltigen Leistungen dieser einflussreichen und schillernden Persönlichkeit. Dass Lücken in der Darstellung geblieben sind, ist angesichts der Vielschichtigkeit und des Facettenreichtums von Brods gesellschaftlichem und kulturellem Handeln nicht verwunderlich. Dies ist umso mehr Auftrag an die Forschung, den hier eingeschlagenen Weg konsequent weiterzugehen. Hierfür bietet das sorgfältig edierte, durchweg informative Buch eine Fülle von Anregungen.
Anmerkung:
[1] Max Brod: Der Prager Kreis, Stuttgart u. a. 1966.
Reinhard Ibler