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Tobias Boes: Thomas Manns Krieg. Literatur und Politik im amerikanischen Exil. Aus dem Englischen übersetzt von Norbert Juraschitz und Heide Lutosch, Göttingen: Wallstein 2021, 443 S., 25 s/w-Abb., ISBN 978-3-8353-3973-6, EUR 29,90
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Rezension von:
Hans Woller
München
Empfohlene Zitierweise:
Hans Woller: Rezension von: Tobias Boes: Thomas Manns Krieg. Literatur und Politik im amerikanischen Exil. Aus dem Englischen übersetzt von Norbert Juraschitz und Heide Lutosch, Göttingen: Wallstein 2021, in: sehepunkte 22 (2022), Nr. 4 [15.04.2022], URL: https://www.sehepunkte.de
/2022/04/36059.html


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Tobias Boes: Thomas Manns Krieg

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Über Thomas Mann in Amerika ist noch längst nicht alles gesagt - trotz der Edition des Briefwechsels mit Agnes E. Meyer [1], des monumentalen Werks von Hans Rudolf Vaget [2], der äußerst instruktiven Studie von Heinrich Detering [3] und Sonja Valentins gründlicher Arbeit über Thomas Manns Radiosendungen "Deutsche Hörer" [4], die den Forschungsstand auf eine neue Basis gestellt haben. Wie viel noch getan werden kann, zeigt das Buch von Tobias Boes, an dem nur der so irreführende wie reißerische Titel zu tadeln ist. Alles andere ist neu, innovativ und aufregend dazu. Der Professor für Neuere deutsche Literatur an der University of Notre Dame in Indiana erschließt ein bisher kaum beackertes Forschungsfeld, indem er nach den Rezeptionsbedingungen für Manns Œuvre in Amerika fragt und dabei die Metamorphosen der Kultur in den Vereinigten Staaten ebenso in den Blick nimmt wie die erstaunliche Fähigkeit des deutschen Nobelpreisträgers, sich diesen Wandlungsprozessen anzupassen.

Thomas Mann hatte in den USA zunächst kein großes Publikum. Der Verleger Alfred A. Knopf hatte sich zwar schon 1921 die Rechte an seinem Werk gesichert und sich verpflichtet, Jahr für Jahr einen Band auf den Markt zu bringen. Der Erfolg hielt sich aber in engen Grenzen. Das änderte sich in den frühen 1930er Jahren. Den Ausschlag dafür gaben in den Augen von Tobias Boes zwei gravierende Änderungen in den kulturellen und politischen Orientierungen der amerikanischen Gesellschaft, die den Aufstieg Manns zum "bedeutendsten Literaten unserer Zeit" [5] begünstigten. Die ihrer selbst noch ganz unsichere Society öffnete sich damals bis in die Mittelschichten hinein wissenschaftlichen und literarischen Themen, wobei sie sich primär an europäische Standards hielt. Dabei rückten nicht nur die Werke selbst, sondern auch ihre Urheber in das Zentrum der Aufmerksamkeit. Thomas Mann, der zugeknöpfte Patrizier und Patriarch, erfüllte diese Erwartungen wie kaum ein anderer. Er stand für europäische Kultiviertheit, bürgte für Antworten auf die Rätsel der Moderne und lieferte mit seinen Kindern Erika und Klaus zugleich unentwegt Stoff für Stories, die auch den Boulevard fesselten.

Hinzu kam, dass sich Amerika in den 1930er Jahren für Hitler zu interessieren begann. Wo lagen die Ursachen für den Aufstieg des Nationalsozialismus? Was war von den Deutschen für die Zukunft zu erwarten? Der Regimegegner Mann, der seiner Heimat den Rücken gekehrt hatte und seit 1938 in Amerika lebte, war auch für diese Fragen der richtige Mann, zumal nach seinem berühmten Brief an den Dekan der Universität Bonn, mit dem er sich 1936 endgültig vom NS-Regime abwandte. "Der Brief hatte die Wirkung einer Bombe" und veränderte die "Thomas-Mann-Rezeption in den Vereinigten Staaten beinahe über Nacht komplett" (100). Die Amerikaner, so Boes' kluger Kommentar, verwandelten Thomas Mann in eine "antifaschistische Ikone" (116) und positionierten sich so auch selbst in den grundstürzenden Ereignissen in Europa.

Thomas Mann, politischer Eindeutigkeit lange abgeneigt, erlebte damit eine Art Neuerfindung für den amerikanischen Markt. Dies geschah unter seiner tätigen Mithilfe und mit wachsendem Vergnügen an der großen Resonanz, die er in der Fremde fand: Er gab Interviews, hielt Reden, verlas Grußbotschaften und wachte aus Sorge um sein sauberes Image streng darüber, dass seine nationalistischen "Betrachtungen eines Unpolitischen" nicht ins Englische übersetzt wurden. Sein schriftstellerisches Werk ging in diesem medialen Spektakel nicht unter, es trat aber in der öffentlichen Wahrnehmung doch weit hinter seine politischen Essays und seine Rolle als "Wanderredner der Demokratie" (175) zurück. Boes verfolgt diese steile Karriere, es geht ihm dabei aber nie um Thomas Mann allein. Fast noch wichtiger ist ihm der Resonanzboden, auf den der rastlose deutsche Schriftsteller traf. Boes lenkt die Aufmerksamkeit seiner Leser deshalb auf die Spezifika des Buchmarkts, des Verlagswesens und der Germanistik in Amerika, um nur einige Aspekte seiner weit gespannten Analysen zu nennen, in denen selbstverständlich auch Einzelpersonen wie Agnes Meyer, der Leiter der Library of Congress Archibald MacLeish und die Journalistin Dorothy Thompson nicht fehlen. Sie verhalfen Thomas Mann zu einem finanziell sorgenfreien Leben und verschafften ihm eine Vielzahl politischer Bühnen, wie sie keinem anderen Exilanten offenstanden.

Es ist bekannt, dass Mann den amerikanischen Präsidenten Roosevelt als Gegenspieler Hitlers bewunderte und dass er dessen New Deal als Musterbeispiel moderner Gesellschaftspolitik betrachtete. Er befand sich hier im Einklang mit dem Mainstream amerikanischer Politik, was ihm bei seinen Auftritten ebenso zugutekam wie die Grundaffinität, die ihn mit führenden Exponenten eines konservativen Liberalismus wie Reinhold Niebuhr und Waldo Frank verband, die, wie er, auf eine militärische Intervention der USA drängten und sich der Vision einer Weltordnung im Zeichen von Frieden, Freiheit und sozialem Ausgleich verschrieben hatten.

Ob und in welchem Maße das politische Engagement das literarische Werk Manns prägte, muss eine schwebende Frage bleiben. Boes steuert zahlreiche Beobachtungen zu dieser Diskussion bei, legt sich aber nicht fest. Eindeutig hingegen ist seine Position, wenn es um Thomas Manns Auffassung über zwei seiner wichtigsten Anliegen geht - um die Rolle des Schriftstellers in der Gesellschaft und sein Verhältnis zum "Deutschtum" und zu den Deutschen. Mann rang Zeit seines Lebens mit diesen Themen, wobei die Erfahrungen im Exil eine Zäsur markierten. Er überzeugte sich jetzt in der tödlichen Konfrontation mit den totalitären Regimen davon, dass Kunst allein schon deshalb eine genuin politische Kraft darstellte, weil sie - um wahre Kunst sein zu können - ihre Autonomiebezirke behaupten und damit die Ansprüche des Totalitarismus zurückweisen musste. Kunst und Politik waren keine getrennten Sphären, sie begegneten sich auf gleicher Höhe.

Boes erklärt damit, ohne große Worte zu machen, die alte, mit so viel Meinungsaufwand geführte Debatte über Thomas Mann als Politiker als obsolet. Er hebt sie ebenso auf eine neue Ebene wie die Diskussion um seinen Protagonisten und die Deutschen, die ebenfalls allzu oft im Modus des Schwarz-Weiß ausgetragen worden ist. Thomas Mann hatte sich schon in den 1920er Jahren als Vertreter der deutschen Nation und als europäischer Schriftsteller verstanden. Im Exil gelangte er zu der Auffassung, dass das "Nationale ausgespielt" habe, dass "die Zeit der Nationalstaaten und Nationalkulturen sich rasch ihrem Ende nähert" (241); deshalb begann er, einen "dezidiert kosmopolitischen Ton" anzuschlagen (242). Er fühlte sich als "erster Bürger einer Republik der Literatur" (291) und in der Tradition Goethes als Repräsentant des "Weltdeutschtums" (245). Zudem vertrat er die Ansicht, "dass die globale literarische Gemeinschaft inzwischen ein größeres Mitspracherecht bei der Definition habe, was als 'deutsch' gelte, als lediglich die nationalen Stimmen im eigenen Land", wie Boes betont (245).

Einsichten dieser Art belasteten das Verhältnis von Thomas Mann zu den Deutschen nicht weniger als seine Überlegungen zum Ursprung des Nationalsozialismus und zur Frage der kollektiven Schuld der Deutschen, die weder von den deutschen Exilanten noch von den Deutschen daheim gerne gehört wurden. Für Thomas Mann gab es keine zwei Deutschlands, ein gutes und ein schlechtes, die säuberlich getrennt werden konnten. "Insofern müsse ganz Deutschland und müssten alle Deutschen einen Teil der Schuld auf sich nehmen, die durch den Holocaust entstanden sei" (267).

Von der Mehrheit der Deutschen deshalb als "Lakei[...]" (268) der alliierten Siegermächte denunziert, befand sich Thomas Mann auch in Amerika zunehmend auf verlorenem Posten, wie Boes anhand zahlreicher Beispiele überzeugend darlegen kann. Sein Stern begann bereits nach dem Kriegseintritt der USA Ende 1941 langsam zu sinken. Seit GIs gegen Hitlers Truppen fochten, verbrauchte sich die Rolle eines Romanciers an der Spitze des Kampfs gegen Nationalsozialismus und Faschismus. Nach Roosevelts Tod veränderten sich dann namentlich die politischen Rahmenbedingungen, die der Rezeption Thomas Manns den Weg bereitet hatten, fast in ihr Gegenteil. Die Abkehr vom New Deal, die Konfrontation mit der Sowjetunion, die innenpolitische Polarisierung und nicht zuletzt die Verschärfung der Rassendiskriminierung verwandelten seine Wahlheimat in einen unseligen Flecken Erde, in dem er nicht begraben sein wollte. Amerika befand sich in seinen Augen auf der schiefen Bahn - aus Angst vor der roten Gefahr und "im Namen eines angeblichen 'Notstands' - genauso hat es angefangen - in Deutschland" (310).

Thomas Mann, der sich mit Kritik an der amerikanischen Regierung lange zurückgehalten hatte, nahm ab 1947/48 kein Blatt mehr vor den Mund. Vor allem mit seinen Interventionen gegen angebliche Polizeistaatsmethoden und zugunsten von Linken und Liberalen, die im Zeichen von McCarthy unter Druck gerieten, schuf er sich ein Heer von Gegnern, die auch ihn selbst in die Nähe des Kommunismus rückten. Ihren Höhepunkt erreichte die Entfremdung 1949, als Thomas Mann an einer Konferenz teilnahm, die für Frieden zwischen Washington und Moskau warb, und als er anlässlich der Feierlichkeiten zu Goethes 200. Geburtstag nicht nur Frankfurt am Main, sondern auch Weimar in der sowjetischen Besatzungszone besuchte. Das FBI, das ihn und seine Familie schon länger observierte, nahm diesen Besuch anscheinend zum Anlass, um die Library of Congress zur Absage eines Vortrags von Mann zu bewegen. Diese Maßnahme beendete "de facto seine Karriere als öffentlicher Intellektueller in Amerika" (316). Der "größte Literat unserer Zeit" galt nun als "nützlicher Idiot" Moskaus (313), sein Werk als "überholt" (305). Ein Rezensent hatte ihm schon 1944 bescheinigt, dem "größten lebenden Langweiler sehr nahe" zu kommen (253).

Was für ein Höhenflug und was für ein Absturz! Tobias Boes erklärt uns das eine wie das andere auf ebenso einleuchtende wie souveräne Weise und vergisst dabei auch nicht den Hinweis, dass Thomas Mann im Auf und Ab seiner amerikanischen Karriere politisch nie auf Abwege geriet: Trotz aller Anpassungen bewahrte er sich seine Freiheit und moralische Integrität.


Anmerkungen:

[1] Vgl. Thomas Mann / Agnes E. Meyer: Briefwechsel 1937-1955, hrsg. von Hans Rudolf Vaget, Frankfurt/M. 1992.

[2] Vgl. Hans Rudolf Vaget: Thomas Mann, der Amerikaner. Leben und Werk im amerikanischen Exil 1938-1952, Frankfurt/M. 2011.

[3] Vgl. Heinrich Detering: Thomas Manns amerikanische Religion. Theologie, Politik und Literatur im kalifornischen Exil, Frankfurt/M. 2012.

[4] Vgl. Sonja Valentin: "Steine in Hitlers Fenster". Thomas Manns Radiosendungen Deutsche Hörer! 1940-1945, Göttingen 2015.

[5] So Dorothy Thompson in der New York Herald Tribune vom 10.6.1934, zit. nach Boes, Thomas Manns Krieg, 64.

Hans Woller