Julia Mandry: Armenfürsorge, Hospitäler und Bettel in Thüringen in Spätmittelalter und Reformation (1300-1600) (= Quellen und Forschungen zu Thüringen im Zeitalter der Reformation; Bd. 10), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2018, 1052 S., 5 Kt., 58 s/w-Abb., 29 Tbl., ISBN 978-3-412-50811-1, EUR 125,00
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Jeffrey D. Burson / Ulrich L. Lehner (eds.): Enlightenment and Catholicism in Europe. A Transnational History, Notre Dame, IN: University of Notre Dame Press 2014
Ingo Löppenberg: «Wider Raubstaat, Großkapital und Pickelhaube». Die katholische Militarismuskritik und Militärpolitik des Zentrums 1860 bis 1914, Frankfurt a.M. [u.a.]: Peter Lang 2009
Klaus Herbers: Jakobsweg. Geschichte und Kultur einer Pilgerfahrt, München: C.H.Beck 2006
Die zu besprechende imposante Studie ist als Dissertation an der Friedrich-Schiller-Universität Jena im Rahmen des Forschungsprojekts "Thüringen im Jahrhundert der Reformation" bei Uwe Schirmer entstanden. Sie fügt sich ein in die in mehreren Wellen vonstattengegangene Kontroverse über die Bedeutung der Reformation für das Verständnis von Armut und die Praxis der Armenfürsorge. Diese wurde lange hoch veranschlagt und je nach konfessioneller Lesart als ein erfolgreicher Neubeginn oder als Zerstörung einer etablierten und funktionierenden christlichen Armenfürsorge interpretiert (so die Klassiker Georg Ratzinger bzw. Gerhard Uhlhorn im späten 19. Jahrhundert). Die Sozialgeschichtsschreibung relativierte seit den 1970er- / 1980er-Jahren eine herausgehobene Bedeutung der Reformation und ordnete die Veränderungen des 16. Jahrhunderts in langfristige Prozesse ein, die bereits im 14. Jahrhundert begonnen hatten (z.B. Christoph Sachße / Florian Tennstedt; Helmut Bräuer). Dieses Narrativ stellten dann insbesondere protestantische (Kirchen-)Historiker wieder in Frage (bes. Ole Peter Grell; Tim Lorentzen), und jüngere Sozialhistoriker bemühen sich um eine vermittelnde Position (z.B. Sebastian Schmidt).
Vor diesem Hintergrund ist das von Julia Mandry gewählte Forschungsdesign sehr zu begrüßen, umfasst es doch den gesamten umstrittenen Zeitraum und löst die vielfach beklagte künstliche Trennung in Mittelalter und Frühe Neuzeit auf, auch wenn die Autorin immanent die Reformation als Zäsur heranzieht, um die Darstellung in meist kurze Kapitel zur vorreformatorischen bzw. längere zur reformatorischen Armenfürsorge zu unterteilen. Damit ist auch schon ein Gliederungsprinzip der sieben gleichartig aufgebauten Fallstudien (Kap. IV-X = 111-548) zu Reichs- bzw. Landstädten im thüringischen Raum (Nordhausen; Mühlhausen; Erfurt; Altenburg; [Langen-] Salza; Arnstadt; Greiz) benannt. Durch diese Fallstudien ist eine historische Tiefenbohrung gegeben, die es erlaubt, allgemeine Annahmen in diachroner Perspektive zu überprüfen. Für ihren Untersuchungsraum leistet die Autorin neben den Fallstudien auch einen ausführlichen systematisierenden Vergleich im Blick auf die lokalen Versorgungsstrukturen (Kap. XI.1 = 549-655). Darüber hinaus geht sie zwei speziellen Aspekten ebenfalls systematisierend nach: den Bettlern und ihrer Lebenswelt sowie Armutsdarstellungen in der Kunst in Thüringen (Kap. XI.2 bzw. XI.3 = 656-712 bzw. 712-770). Flankiert werden diese zentralen Teile durch informative einführende Kapitel zum Thema Armut (Kap. II = 33-56) und Armenfürsorge (Kap. III = 57-109). Sie demonstrieren - wie bei Qualifikationsarbeiten üblich - die Belesenheit der Verfasserin mit vielen teils überlangen Fußnoten. Schließlich präsentiert der Anhang eine Fülle von wichtigen Materialien, die erst die (begrenzte) Leistungsfähigkeit der Armenfürsorgeeinrichtungen aufzeigen (durch genaue Tabellen zu Einnahmen und Ausgaben) und einen Überblick bieten, wo solche überhaupt anzutreffen waren (bes. ein Katalog von Hospitalstandorten samt Karten). Fast 100 Seiten Quellen- und Literaturverzeichnis vermitteln einen Eindruck von der Fülle des von der Autorin gesichteten Materials. Genau diese Fülle ist ein herausragendes und beeindruckendes Merkmal der Studie, denn Mandry hat umfänglich in zahlreichen Archiven geforscht und die archivalischen zudem um einschlägige gedruckte Quellen sowie Quelleneditionen (z.B. der Evangelischen Kirchenordnungen) ergänzt.
In der eingangs erwähnten Kontroverse bezieht die Autorin in der Schlussbilanz eine klare und zugleich erfreulich differenzierte Position. Sie macht aufgrund der Auswertung vieler nicht-normativer Quellen deutlich, wie sehr auch bei der Armenfürsorge (theologischer) Anspruch und Wirklichkeit auseinanderfielen. Die Reformation war wichtig für die Entwicklungen in der Armenfürsorge, doch nahm sie "keine alles andere überragende Position ein." Der als Identifikationssymbol reformatorischen Armenwesens angesehene "Gemeine Kasten" war bedeutsam, "aber es muss zugleich auf sein Scheitern in Bezug auf die Abschaffung existentieller Nöte und anderweitiger Unterstützungsnotwendigkeiten verwiesen werden." (782) Gegenüber einer allzu schematischen Rede vom Gemeinen Kasten als Institution lutherischer Armenfürsorge vermag die Autorin überzeugend nachzuweisen, dass die Kästen lokal recht verschieden strukturiert waren und vielfach nicht dem von Tim Lorentzen aufgezeigten Idealmodell entsprachen (563-569). Die im Idealkonzept des Gemeinen Kastens angelegte Zentralisierung aller Armenfürsorge blieb aus, sodass es neben ihm weitere Träger der Armenfürsorge (städtischer Haushalt; Hospitäler; private Stiftungen) gab. Hilfen boten Versorgungseinrichtungen, vor allem Hospitäler, nicht nur in den Städten, sondern in einem überraschenden Ausmaß auch auf dem Land, was sich nur dank der gründlichen Recherchen der Autorin in verschiedenen Quellengruppen erkennen ließ. Die hohen Erwartungen von Reformatoren wie Martin Luther oder Wenzeslaus Linck, mit dem Gemeinen Kasten und der Beschränkung der Hilfe auf die heimischen "würdigen" Hausarmen (Heimatprinzip) das Bettelwesen beseitigen und in jeder Gemeinde eine funktionierende Armenfürsorge einführen zu können, ließen sich gleichwohl nicht erfüllen. Die Unterstützungsbedürftigen waren angesichts unzureichender Leistungen aus dem Gemeinen Kasten weiterhin zwingend darauf angewiesen, auf andere Quellen zurückzugreifen - bis hin zum Betteln selbst der "würdigen", in das Gemeinwesen integrierten Armen. Galt das Bettelverbot vielfach als zentrales Unterscheidungsmerkmal zwischen protestantischen und katholischen Territorien, so verdeutlicht Mandry eindrucksvoll, dass Betteln auch in den erstgenannten zur Alltagsrealität gehörte und die hilfsbereiten Menschen dieses auch durchaus anerkannten. "Letztlich lösten sich die alten Bitt- und Spendentraditionen sowohl in der Verwaltung als auch beim einzelnen Bürger nicht auf; das reformatorische Kastensystem erreichte keine grundlegende Wende im Armenunterhalt und die althergebrachte, obgleich auf ein neues theologisches Fundament gestellte Almosen- als auch Bettelpraxis blieb notwendiger Gesellschaftsbestandteil." (782) Es ist ein weiteres wesentliches Verdienst der Studie, einen genauen Blick auf die vielschichtige Realität der Bettelexistenzen zu werfen und eindrücklich herauszuarbeiten, wie rasch Menschen aus dem ohnehin dünnen Netz der Hilfen herausfallen konnten und nahezu aussichtslos dem unsicheren Schicksal eines Lebens auf der Straße überlassen blieben.
Diese materialgesättigte kluge Arbeit ergänzt die etablierten Forschungsergebnisse insbesondere von Helmut Bräuer und Stephan Oehmig für den mitteldeutschen Raum zeitlich und räumlich substanziell und bereitet den Boden für zukünftige vergleichende Synthesen (auch konfessionsübergreifend). Sie vermittelt einen sehr überzeugenden differenzierten Einblick in die konkreten Armutsverhältnisse wie in die Entwicklung der Armenfürsorge vor Ort, für den Kirchen- wie Sozialhistoriker gleichermaßen dankbar sein können.
Bernhard Schneider