Andreas Rutz: Die Beschreibung des Raums. Territoriale Grenzziehungen im Heiligen Römischen Reich (= Norm und Struktur. Studien zum sozialen Wandel in Mittelalter und Früher Neuzeit; Bd. 47), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2018, 583 S., 18 Farb-, 30 s/w-Abb., ISBN 978-3-412-50891-3, EUR 80,00
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Andreas Rutz / Tobias Wulf (Hgg.): O felix Agrippina nobilis Romanorum Colonia. Neue Studien zur Kölner Geschichte - Festschrift für Manfred Groten zum 60. Geburtstag, Köln: SH-Verlag 2009
Andreas Rutz (Hg.): Die Stadt und die Anderen. Fremdheit in Selbstzeugnissen und Chroniken des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2021
Die in unserer Gegenwart, allen voran aufgrund der sogenannten Flüchtlingskrise, wieder vermehrt in den Blick geratenen nationalen und europäischen Grenzen lassen glauben, ohne Grenzen ließe sich kein Staat machen. Die Vormoderne lehrt indes scheinbar eindeutig, dass sich Herrschaft zuvorderst im physikalischen Raum mittels Personen und Recht und erst allmählich über einen Raum erstreckte. Theodor Mayer hat diesen Wandel bekanntermaßen mit dem Übergang vom Personenverbandsstaat zum institutionellen (und auf Grenzlinien angewiesenen) Flächenstaat beschrieben. Wie tragfähig ist jedoch dieses immer wieder angeführte Diktum Mayers? [1] Und was kann man sich überhaupt in der Vormoderne unter einer Grenze vorstellen?
Mit dieser dezidiert epochenübergreifend angelegten Frage setzt sich Andreas Rutz in seiner Habilitationsschrift auseinander. Methodisch die Konstruktion von Räumen und Herrschaft im Sinne der jüngeren Kulturwissenschaften betonend, analysiert er die Vorstellungen und die Praktiken territorialer Grenzziehung und damit ein zentrales Element von territorial-räumlich konzipierter Herrschaft. Zeitlich reicht das Spektrum vom Frühmittelalter bis ins 18. Jahrhundert, räumlich werden aufgrund der unterschiedlichen Grade territorialer Integration Rheinland-Westfalen, Franken und Bayern fokussiert. Die in einem Register verzeichneten Orte, Städte, Territorien, Regionen, Landschaften, Gewässer und Landschaftsformen dokumentieren überdies die vergleichende Betrachtung mit anderen Regionen des Heiligen Römischen Reiches und Westeuropas.
Dieses hier angedeutete zeitlich und räumlich weitgefasste Spektrum ist nicht Last, sondern Leistung und Potential der Studie, auch dank der von Rutz vorgenommenen klaren Systematik: Die territoriale Grenzziehung wird chronologisch mit je einem Kapitel zum Mittelalter, zum 16. und 17. Jahrhundert sowie zum 18. Jahrhundert betrachtet. Eine systematische Analyse erfahren daneben die als "Verfahren" bezeichneten Formen der Darstellung und Herstellung von vormodernen Grenzen an sich sowie die "Verwissenschaftlichung" territorialer Grenzziehung im Laufe der Frühen Neuzeit. 30 Abbildungen und ein eigener, wenngleich nur begrenzt ertragreicher, farbiger Tafelteil erweitern die Zugänge. [2]
Innerhalb der Darlegung der Praktiken der Grenzziehung unterscheidet Rutz zwischen der verbalen Beschreibung, der materiellen und symbolischen Markierung im Feld sowie der Vermessung und Kartierung von Grenzen. Mit allen vier Verfahren wurden seit dem Mittelalter territoriale Grenzen beschrieben und markiert. Es handelt sich also zunächst und in erster Linie um eine Kontinuität der staatlich-administrativen Raumerfassung, die Rutz konstatiert. Auf Grundlage der Auswertung von landesherrlichen Akten, gedruckten und handgezeichneten Karten sowie weiterem gedruckten Quellenmaterial wird damit das Mayer'sche Diktum eindringlich relativiert. Rutz spricht stattdessen von einer sowohl dem Mittelalter als auch der Frühen Neuzeit bekannten "Dualität von personenbezogener und flächenmäßiger Herrschaft" (458), die durchgehend auf Grenzen angewiesen war.
In diesem Sinne waren es auch nicht erst die - insgesamt sehr ausführlich behandelten - Karten, die Herrschaft räumlich darstellbar machten. Vielmehr wurde die Kartographie, die im 16. Jahrhundert durch wissenschaftliche Innovationen im Vermessungswesen und Instrumentenbau neue Impulse erhalten hatte, erst allmählich von Herrschaft und (Gerichts)verwaltung in das bestehende System der Beschreibung und Markierung von Grenzen einbezogen. Regionale Unterschiede bei der Kartenverwendung erklärt Rutz vor allem mit dem divergierenden Grad der Territorialisierung. Wenn sich die Kartographie dann doch im 18. Jahrhundert zum "Leitmedium" (453) der Beschreibung und Markierung von territorialen Räumen entwickelte, bedeutete dies jedoch keineswegs den Verzicht etwa auf die narrative Beschreibung von Grenzen.
Rutz betont damit nicht nur die Kontinuität der territorialen Grenzziehung, sondern hebt zugleich hervor, dass die Verfahren zur Beschreibung und Markierung von Grenzen nicht zu jeder Zeit und überall gleich wichtig waren. Grenzen waren zwar durchaus mittels Pfählen, Säulen oder Landwehren kenntlich gemacht. Darüber hinaus aber überwog, wie Rutz anführt, die Immaterialität vormoderner Grenzen und mit ihr die verbale Beschreibung, die symbolische Markierung vor allem durch Umgänge und - immer mehr - die kartographische Erfassung des "insgesamt also abstrakt gedachten Grenzverlaufs" (223).
Der Autor vermittelt damit ein gleichermaßen von Kontinuitäten und Wandlungen geprägtes Bild der territorialen Grenzziehung. Im Vordergrund steht daneben die komplementäre Verwendung der Verfahren zur Beschreibung und Markierung von Grenzen. So wurden etwa ältere Protokolle bei Grenzbegehungen mitgeführt, materielle Markierungen im Feld in verbale Beschreibungen aufgenommen oder Karten auf Grundlage von Zeugenaussagen angefertigt. Ein solches Zusammenspiel der Erfassung und Medialisierung vom beherrschten Raum ist der vormoderne Regelfall, wie aktuell Stefan Fuchs in seiner Studie über die Raumerfassung mittels Karten bestätigt. [3] Praxeologisch perspektiviert werden von Rutz auch Widerstände gegen die Anfertigung und Verwendung von Karten. Auch deshalb wurden Karten erst allmählich Leitmedium, blieben aber zugleich Teil eines seit dem Mittelalter bestehenden Systems der Konstituierung von Grenzen.
Mit einer so gearteten jahrhunderteübergreifenden Gewichtung und Hierarchisierung der Verfahren entwirft Rutz ein Entwicklungsmodell, das zwangsläufig streitbar ist. Denn wenn etwa Grenzen, ungeachtet der vorherrschenden Immaterialität und des Primats von Karten, natürlich auch noch im 18. Jahrhundert materiell markiert wurden, dann liegt es im Auge des sowohl zeitgenössischen als auch forschenden Betrachters sowie an dem gewählten Fallbeispiel, wie wichtig die Sichtbarmachung von Grenzen im Feld selbst tatsächlich war. Die letzten Worte über die Verfahren zur Beschreibung und Markierung von Grenzen sind also sicherlich noch nicht geschrieben. Künftige Forschungen können und werden gerade hinsichtlich der Entstehung und Verwendung von Karten vor Gericht weiter differenzieren. [4] Bereits deutlich ist außerdem, dass Grenzen mit Umgängen nicht nur symbolisch markiert wurden, sondern sie zugleich - wie nur angedeutet - der Informationsbeschaffung dienten. Andere Forschungen zu weltlichen Visitationen gewichten diesen Aspekt stärker. [5] Und auch die von Rutz explizit ausgeklammerte und nur am Rande behandelte Wahrnehmung von Grenzen jenseits des staatlich-administrativen Bereiches bedarf weitergehender Forschungen.
Unberührt von solchen Aspekten und Gewichtungsfragen bleibt, dass die Studie absehbar weitere Forschungen anregen wird. Und auch ansonsten lässt sich sagen: Wer künftig zu territorialen Grenzen der Vormoderne arbeitet oder sich für Herrschaft im und über den vormodernen Raum interessiert, wird dies schwerlich ohne die Studie von Rutz tun können. Denn in ihrer - wie eine andere Studie jüngst unterstreicht [6] - methodisch ertragreichen Kombination von Kulturwissenschaften und Landesgeschichte hebt sie epochenübergreifend für zahlreiche Regionen Europas hervor: Auch in der Vormoderne ließ sich ohne Grenzen schwerlich ein 'Staat' machen.
Anmerkungen:
[1] So etwa Joachim Bahlcke: Landesherrschaft, Territorien und Staat in der Frühen Neuzeit (= Enzyklopädie Deutscher Geschichte; 91), München 2012, S. 7.
[2] Taf. 8 zeigt etwa das Pflegamt Velden der Reichsstadt Nürnberg. Die kolorierte Federzeichnung mit den Maßen 120 X 123 cm und viele weitere Karten sind zumindest, aber dann doch auch nur im verkleinerten Buchformat zu sehen. Dem interessierten Leser wäre am meisten geholfen, wenn diese Karten in einer quellenadäquaten, digitalisierten Form zur Verfügung stünden. Es bleibt zu wünschen, dass hier künftig Verlage, Archive, Wissenschaft und geldgebende Einrichtungen neue Wege bestreiten.
[3] Stefan Fuchs: Herrschaftswissen und Raumerfassung im 16. Jahrhundert. Kartengebrauch im Dienste des Nürnberger Stadtstaates (= Medienwandel - Medienwechsel - Medienwissen; 35), Zürich 2018.
[4] Mit Karten hat sich schwerpunktmäßig die Tagung "Recht und Raum" vom 13. - 15. September 2018 beschäftigt (siehe https://www.hsozkult.de/event/id/termine-37067). Die Ergebnisse werden publiziert.
[5] Birgit Näther: Die Normativität des Praktischen: Strukturen und Prozesse vormoderner Verwaltungsarbeit. Das Beispiel der landesherrlichen Visitation in Bayern (= Verhandeln, Verfahren, Entscheiden - Historische Perspektiven; 4), Münster 2017. Siehe außerdem, wenngleich keine reisende, sondern nur an einem Ort tätige Visitation, die Studie des Rezensenten: Alexander Denzler: Über den Schriftalltag im 18. Jahrhundert. Die Visitation des Reichskammergerichts von 1767 bis 1776 (Norm und Struktur; 45), Köln u. a. 2016.
[6] Teresa Neumeyer: Dinkelsbühl. Der ehemalige Landkreis (= Historischer Atlas von Bayern, Teil Franken; Reihe I, Heft 40), München 2018. Dort (187-329) zu finden ist ein praxeologischer und diskursanalytischer Ansatz zur Herrschaft und zum Begriff der Landeshoheit im fränkisch-schwäbischen Raum.
Alexander Denzler